Zusammenfassung
Im Resumee profiliert sich eine rassenpolitische Linie, die im 19. Jahrhundert naturwissenschaftlich mit Darwin, geisteswissenschaftlich etwa mit Gobineau begann und zur Zeit des Frühkapitalismus in den sog. Sozialdarwinismus, einen nahezu klassenkämpferischen Gesellschaftsdarwinismus überging. Es grassierte das Schlagwort »Kampf ums Dasein«. Groteske Vernichtungspläne gegen sozial Schwache erhielten ihre scheinbar naturgegebene Rechtfertigung. Hitler, voller sozialer und patriotischer Ressentiments, klammerte sich an den ins Mythische verblassenden Rassenglauben, bis sich nach dem verlorenen ersten Weltkrieg ein Wahn von der Herrenrasse kompensatorisch bildete. All jene Aggressionen sind ein Geschwätz, allenfalls ein rudimentärer Anfang im Vergleich zum organisierten und kaschierten Massentöten von Anstaltspfleglingen als Artschwachen und Juden als Feinden der »arischen« Rasse. Man erfährt, wie die Anwendung des Gnadentoddekrets ins Uferlose ausartete, wie Patienten, verwurzelt im Anstaltsmilieu, behindert einzig durch Intelligenzschwäche (Debilität), en masse ausgemerzt wurden oder wie Kinder, vertrauensvoll in die sog. Fachabteilung gebracht, hinterrücks ein für alle Mal »behandelt« wurden. Im Blick auf die Gegenwart wird davor gewarnt, die NS-Pfleglingstötung als irrelevant abzutun. Die Eskalation, die im NS-Reich das Unheil so immens vergrößert hatte, droht, sich zu wiederholen. Denn auch aus altruistischen Motiven, dazu aus Furcht, selber einmal hilflos zu werden, kann ein Erlösungsvorschlag den andern nach sich ziehen. Gegen jeden Versuch, aussichtlos Schwerstkranke zu töten, erscheint, von grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, die Ausschöpfung psychischer und medikamentöser Hilfen ein vertrauenbildender Ausweg für Patient und Arzt.
Persönliche Bezugsquelle ist eine Nachkriegsdokumentation über die »Selektion in der Heilanstalt 1939–1945« (Eglfing-Haar)
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Schmidt, G. (2012). Vom Rassenmythos zu Rassenwahn und Selektion. In: Selektion in der Heilanstalt 1939–1945. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-25470-3_2
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