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Einleitung

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Romanisch-kanonisches Prozessrecht

Part of the book series: Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft ((ENZYKLOPRECHT))

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Zusammenfassung

Wenn der Titel des Buches „romanisch-kanonisches Prozessrecht“ lautet, dann ist daran zu erinnern, dass diese Bezeichnung einer historiographischen Begriffsbildung entstammt, sie daher den Juristen des uns angehenden Zeitraums – von der Mitte des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts – unbekannt gewesen ist. Mit der Bezeichnung werden die Texte evoziert, die das Fundament des romanisch-kanonischen Prozessrechts bilden (ob sie nun „richtig“ oder missverstanden worden sind): das römische Recht in Gestalt der justinianischen Kodifikation aus dem 6. Jahrhundert und das kanonische Recht, dieses auf zweifache Weise; denn es konnte sich um älteres Recht handeln, soweit es im Dekret Gratians (um 1140) überliefert worden war, vor allem aber um päpstliche Verlautbarungen aus der Folgezeit (bis in die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts), die, seit alters verkürzend Dekretalen genannt, zur Modernisierung des Prozessrechts beigetragen haben. Mit dem Rekurs auf die Texte aus der Antike, dem Frühmittelalter und der eigenen Zeit war aber zugleich die Wissenschaft angesprochen (die bekanntlich von Bologna ihren Ausgang genommen hatte); in ihren Händen wurden die Texte in einen äußeren und inneren Zusammenhang gebracht und für die Praxis nutzbar gemacht: eine Leistung, an der die Bearbeiter der justinianischen Texte, die Legisten oder Zivilisten, und die Kanonisten alles in allem gleichen Anteil gehabt haben.

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Notes

  1. 1.

    Anhand der Frage nach der Quellenqualität – auch für das romanisch-kanonische Prozessrecht – der päpstlichen im Unterschied zu anderen Texten ist folgendes kurz in Erinnerung zu rufen. Die justinianischen Texte bedurften, sobald sie ihre Epoche verließen und in andere Zeiten und Zivilisationen verpflanzt wurden, jeweils der Vermittlung durch die Wissenschaft. Das ist bekannt und braucht für all die europäischen Epochen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert nicht weiter nachgewiesen zu werden. Schon im Mittelalter war der unmittelbare Zugang zu den Texten Justinians nur noch sporadisch gegeben; erst die legistische Wissenschaft hat das Tor geöffnet, um das römische Recht in seiner ganzen Breite der Gegenwart – ihrer Gegenwart – zuzuführen. Für die Texte, die Gratian gesammelt hatte, wären die Dinge differenzierter zu betrachten; aber auch hier sind die Kanonisten, den Legisten nacheifernd, als wissenschaftliche Vermittler der älteren Quellen aufgetreten. Natürlich werden die Texte Justinians oder Gratians „gelesen“ und verwertet, aber nie isoliert, sondern immer im „Kontext“ der wissenschaftlichen Bearbeitung in allem Reichtum ihrer Formen. Und hier fügen sich nun auch die Dekretalen ein. In den Dekretalen nehmen die Päpste an der wissenschaftlichen Diskussion teil, übrigens nicht nur der Kanonistik, sondern auch der Legistik; die Dekretalen stellen gewissermaßen Verdichtungen oder Konzentrate des wissenschaftlichen Umgangs mit den älteren Texten dar. Anders ausgedrückt sind Dekretalen aus quellentheoretischem Blickwinkel ambivalenter Natur, weil sowohl Rechtsquellentext – insoweit gleichstehend den Texten Justinians und Gratians – als auch wissenschaftlicher Text – insoweit zu den Autoren der gelehrten Rechte gehörend. Die Dekretalen wuchsen aus dem gelehrten Diskurs heraus und tauchten nach ihrer Publizierung in ihn gewissermaßen wieder ein.

  2. 2.

    A. Wach, Der Arrestprocess in seiner geschichtlichen Entwicklung, Ersther Theil: Der italienische Arrestprocess, 1868, S. III. Zu dieser Forschungsrichtung, die mit dem Ersten Weltkrieg abgebrochen ist, s. Nörr, Wissenschaft und Schrifttum zum deutschen Zivilprozeß im 19. Jahrhundert, Ius Commune 10 (1983) S. 149 f., Fn. 29 (auch in: Nörr, Iudicium, S. 189*). Protagonisten waren außer Wach vor allem K.H. Briegleb und Richard Schmidt. Unter den italienischen Rechtshistorikern schlossen sich G. Chiovenda und G. Salvioli und viele andere an.

  3. 3.

    Um den italienischen Beitrag terminologisch anklingen zu lassen, wählten wir „romanisch-kanonisch“ anstatt des im Deutschen üblichen „römisch-kanonisch“. Korrekt doch zu schwerfällig wäre „römisch-italienisch-kanonisch“.

  4. 4.

    In heutigen Verhältnissen ist das Prozessrecht in Normen niedergelegt, die die Staatsgewalt für ihr Territorium oder ihre Bevölkerung aufgestellt hat und an die alle Gerichte in ihrem Herrschaftsbereich gebunden sind. Nach älterer mittelalterlicher Anschauung hingegen ist das Prozessrecht nach Ursprung und Wirkung ein Wesensmerkmal, ein Produkt des Gerichtes selbst; wenn dann eine politische Einheit mehrere Gerichte umfasst, können sich auch gemeinsame Regeln für sie herausbilden durch Brauch und Gewohnheit oder im Wege der Satzung. Eine neue – und alsbald prozessgeschichtlich markanteste – Quelle von gemeinsamen Regeln, die dann an politische Grenzen grundsätzlich nicht gebunden war, öffnete sich mit der neuen Rechtswissenschaft; es entwickelte sich ein ius commune iudiciale oder processuale (wenn die Wortbildung erlaubt ist), ein gemeines Prozessrecht, wie man im deutschen Sprachraum sagt. Auch wenn Wissenschaft reich an Kontroversen in Fragen der Interpretation der Texte und der zu ziehenden Folgerungen ist, ja hiervon geradezu lebt, wirkt sie doch, sobald eine communis opinio entsteht und beachtet wird, als vereinheitlichende und die Unterschiede einebnende Kraft. Aber in unserem Fall sind die Unterschiede in Form der Anknüpfung allen Prozessrechts an das Gericht, oder nun in dichotomer Begrifflichkeit das Gegenüber von partikularem und gemeinem Recht, sind also die partikularen Unterschiede immer lebendig geblieben: die erwähnten Usancen oder Observanzen oder Bräuche eines Gerichts, der stilus curiae oder usus fori, hatten (soweit nicht als missbräuchlich verworfen) stets den Vorrang vor den Regeln des gemeinen Prozessrechts behalten.

  5. 5.

    Auf die Besonderheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (iurisdictio voluntaria) wird unsere Darstellung nicht eingehen.

  6. 6.

    Nicht verwirren lassen darf man sich vom Sprachgebrauch civiliter agere für das Inquisitions- und Denuntiationsverfahren gegen Kleriker, weil dort nach damaliger Anschauung (im Gegensatz zum Akkusationsverfahren) nicht Strafen – ut deponeretur ab ordine –, sondern Verwaltungsmaßregelungen – ut ab administratione amoveretur – zur Entscheidung standen, s. X 5.3.32 (Innozenz III.); Rota Romana, Decisiones antiquae, de iudiciis, dec. 19 (alias 226).

  7. 7.

    Zur Absonderung des Straf- vom allgemeinen Prozessrecht hat auch die für alle späteren kirchlichen Rechtssammlungen richtungweisende Systematik Bernhards von Pavia im Breviarium extravagantium (um 1190), der später so genannten Compilatio prima beigetragen; vom allgemeinen Prozessrecht handelte das 2. Buch, vom Strafprozess das 5. Buch (im ersten Titel). Dieser Aufteilung in zwei getrennte Bücher sind alle späteren Kompilationen einschließlich des Liber Extra und Liber Sextus gefolgt.

  8. 8.

    So Duranti, Speculum iudiciale, in der Vorrede zum 2. Buch.

  9. 9.

    Im Wege etwa der appellatio extraiudicialis, unten § 11, unter 2.

  10. 10.

    Auch wenn die Freiheit des Individuums kein Thema und keine Konzeption der beiden Rechte dargestellt hat, so brachte doch die Klagemöglichkeit zusammen mit der Beachtung, wie wir sehen werden, fundamentaler Verfahrensregeln in ihrer Wirkung ein Stück Freiheitssicherung des Einzelnen.

  11. 11.

    Die Nummerierung der Titelrubriken und leges folgt den Ausgaben Krügers und Mommsens.

  12. 12.

    Die prozessrechtlichen Teile des Dekret Gratians sind trotz des eher mageren Ergebnisses ein beliebtes Thema, s. E. Jacobi, ZRG Kan. Abt. 3 (1913) S. 223–343; M. Móra, Die Frage des Zivilprozesses und der Beweislast bei Gratian, 1937; F. della Rocca, Studia Gratiana 2 (1954) S. 279–303; W. Litewski, Studia Gratiana 9 (1966) S. 65–109; B. Basdevant-Gaudemet, Revue de droit canonique 27 (1977) S. 193–242. – Zur Bedeutung der Dekretalen s. oben § 1, Fn. 1.

  13. 13.

    Ob er alle Kommentierungen zum Digestum Vetus verfasst hat, wie verschiedentlich bezweifelt wird, bleibt für unsere Darstellung dahingestellt.

  14. 14.

    Siehe statt aller: Guillaume Durand, évêque de Mende (v. 1230–1296), hg.von P.-M. Guy, 1992.

  15. 15.

    Weil die Schrift auch unter dem Namen des Panormitanus gedruckt worden ist, konnte sie sich trotz ihres deutschen Ursprungs weit im Mittelmeerraum verbreiten; Zeugnis hiervon gibt etwa die Practica iudiciaria compendiosa des Johannes de Arnono aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die sich weithin auf den Pseudo-Panormitanus stützte (und deshalb, wie hinzuzufügen ist, in nicht mehr als 15 Tagen, nach eigener Bekundung am Ende des Traktats, geschrieben werden konnte). Der volle Titel lautet: „Practica iudiciaria compendiosa et utilis, tam canonica quam civilis, tam ordinaria quam extraordinaria, et maxime in Regno (sc. Siciliae) edita“; gedruckt ist die Schrift als Zugabe in manchen Druckausgaben des Speculum aureum Marantas, etwa Colon. Agripp. 1628.

  16. 16.

    Darin wurde dem Prozessrecht des ius commune das Partikularrecht des Königreichs Sizilien gegenübergestellt.

  17. 17.

    Ergänzend sind Gesamtüberblicke in den großen Enzyklopädien zu nennen: Ch. Lefebvre, DDC 7 (1965) Sp. 285–296; R.C.van Caenegem, International Encyclopedia of Comparative Law, vol. 16, ch. 2 (1973) S. 11–53; A. Campitelli, ED 36 (1987) S. 79–101. Wenig hilfreich sind die Gesamtdarstellungen von Endemann in der Zeitschrift für deutschen Civilprozess 15 (1891) S. 177–326, und von A. Engelmann in „Der Civilprozeß: Geschichte und System“, 2. Bd., 3. Heft (in englischer Übersetzung aufgenommen in „A History of Continental Civil Procedure“, 1927); erstere stellt wenig mehr dar als eine kursorische Paraphrase des Duranti, und letztere schien mit einem Minimum an Quellenbelegen auszukommen.

  18. 18.

    Vgl. Nörr, ZRG Kan. Abt. 87 (2001) S. 552.

  19. 19.

    Ein weiteres Beispiel bei Nörr, ZRG Kan. Abt. 81 (1995) S. 465.

  20. 20.

    Siehe unten § 29, unten 1.

  21. 21.

    Hostiensis, Summa X 1.32, n. 3.

  22. 22.

    Auch sonst darf man nicht Sätze aus ihrem Zusammenhang herauslösen. Ein Beispiel: Zu der Streitfrage, ob bei Zweifeln über das Lebensalter die Voll- oder die Minderjährigkeit zu beweisen ist, führte Baldus aus (D. 4.4.43, n. 4, nach Jacobus de Porta Ravennate), nachdem er eine bestimmte sehr spezielle Erwägung wiedergegeben hatte, dass durch sie non datur regula circa modum probandi. Diese Worte aus dem Zusammenhang der Erwägung und der Streitfrage zu reißen und ihnen absolute Gültigkeit beizumessen (so aber Salvioli, S. 408 mit Fn. 1, S. 475 mit Fn. 1) würde nichts weniger als das gesamte Beweissystem aufs Spiel setzen. Es ist nicht ratsam, sich auf summationes (und die aus ihnen zusammengesetzten Repertorien) unbesehen zu verlassen.

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Nörr, K. (2012). Einleitung. In: Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft(). Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-23483-5_1

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