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Medizin und Diktatur – Deutschland, 1933–1945

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Zusammenfassung

Spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert waren die Grenzen der wissenschaftlich-experimentellen Hygiene und der jungen Bakteriologie als Leitwissenschaften öffentlicher Gesundheitspflege deutlich geworden. Weder durch eine technische Assanierung und Hygienisierung der Städte noch durch individualisierte Krankheitskonzepte der Bakteriologie oder durch die fortschrittliche Sozialgesetzgebung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs war es gelungen, die überwältigenden sozialen und hygienischen Probleme der zweiten Phase der Industrialisierung in den schnell expandierenden Städten zu lösen. In der Medizin wird nun, besonders in den Jahren der Weimarer Republik und damit in einer Zeit, in der Zusammenhänge zwischen Krankheit und sozialer Lage immer deutlicher hervortreten, die bereits vor dem verlorenen Weltkrieg entstandene Sozialhygiene bedeutend. Sie liefert in einer durch Wirtschaftskrisen, aber auch vor dem Hintergrund einer durch das scheinbare Versagen der Laboratoriumsmedizin aus ge lösten »Krise der Medizin« wichtige Antworten auf brennende Probleme und Fragen der Zeit. Parallel dazu wächst aber auch die radikalnationalistische und antisemitische Bewegung der am 24. Januar 1920 aus der Deutschen Ar beiterpartei hervorgegangenen NSDAP, die von Anfang an eine hohe Affinität für Ärzte aufweist, meist männliche Ärzte, denn die frühe NS-Bewegung ist männerbündisch. Unter den frühen ärztlichen Mitgliedern sind es meist ehemalige Frontkämpfer, am Kapp-Putsch Beteiligte oder Freikorpsmitglieder. Charakteristisch ist ihre deutsch nationale Haltung, ihr Antikommunismus, ihr Sehnen nach einer neuen Volksgemeinschaft, die »organisch« sein soll, »wuchshaft verbunden mit der Erde«, nach einer neuen völkischen »Ethik«, die sich gerade auch auf den »Willen zum Wert« des Menschen erstreckt und Fremdes, Nichtdeutsches, Ungewöhnliches als »wertlos« ablehnt. Besonders der Antisemitismus findet hier seinen Nährboden. Die Marburger Medizinerschaft fasst schon 1919 den Beschluss, Juden aus ihren Reihen auszuschließen. Aber es sind auch blanke wirtschaftliche Interessen, die gerade Ärzte der NSDAP zuf ühren. Der Hartmannbund, ein Berufsverband für Ärzte, hatte die schwierige soziale Lage vieler Ärzte, besonders der Jungärzte und Kriegsteilnehmer ohne Kassenzulassung, bewusst emotionalisiert. Die Beschränkung der Kassenzulassung wurde insbesondere auf den Einfluss linksradikaler, kommunistischer und jüdischer Ärzte zurückgeführt. Hinzu trat das propagandistisch gern ge schürte Argument der »Überjudung« deutscher Hoch schulen und Krankenanstalten. Dass die NSDAP aus solchem Angst- und Frustrationspotential erfolgreich schöpfte, verstärkt seit 1926 aus der rechts-orientierten Reichsnotgemeinschaft Deutscher Ärzte und dem ärztlichen Berufsstand, der bereits 1929 mit der Parteiunterorganisation des National sozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) ein eigenes Sammelbecken schuf, erklärt sich leicht. Auf der Leipziger Tagung des NSDÄB im Spätherbst 1931 versprach dessen Vorsitzender, Dr. Hans Deuschl (1881–1953), dass man »die Führung der deutschen Ärzteschaft« an dem Tage »übernehmen « werde, an dem das Hakenkreuzbanner vom Brandenburger Tor wehe. Bis dahin sollten kaum mehr 15 Monate ins Land gehen, und aus einer stark durch die Sozial hygiene geprägten Medizin der Weimarer Republik entwickelte sich eine politisch geprägte Heilkunde im Dienste des Staates, deren Ziele sich ganz an den Orien tierungsgrößen der Rasse, des Volkes, der Leistungssteigerung, der biologisch-experimentellen Ausbeutung »gemeinschaftsfremder « Körper und der »Ausmerze« des biologisch-ökonomischen »Unwertes« ausrichteten, die Gesundheitsbedürfnisse des Individuums aber weitgehend aus dem Auge verlieren sollten.

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Eckart, W.U. (2011). Medizin und Diktatur – Deutschland, 1933–1945. In: Illustrierte Geschichte der Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-20098-4_9

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