Zusammenfassung
Die Vorstellung, daß Wissen ein Bestand sei, der wächst, ist alt. Bereits die Art, in der Aristoteles1 die Geschichte der seinen eigenen Bemühungen vorausliegenden Prinzipienforschung erzählt, ist von dieser Vorstellung geleitete2. Die Zahl der Prinzipien ist begrenzt, eins nach dem anderen wird entdeckt, bis endlich, nämlich bei Aristoteles selbst, ihre Entdeckungsgeschichte abgeschlossen ist. Das Schema, das dieser Vorstellung vom Fortgang der Wissensgeschichte zugrunde liegt, ist von äußerster Simplizität. Aber es hat eben deswegen eine Plausibilität, der man sich schwerlich entziehen kann. Man mag sich aus seiner Schulzeit noch an die Mathematiklehrbücher der Gymnasialmittelklassen erinnern, wo den Lehrsätzen der Geometrie und Arithmetik, die man erlernte, indem man sie zu beweisen lernte, im Anmerkungskleindruck von Thales bis zu Fermat die Namen und Lebensdaten der Wissensfinder beigegeben waren, die die fraglichen Lehrsätze zuerst formuliert und bewiesen hatten. Das Bild der Wissensgeschichte, das sich aus solchen historischen Anmerkungen ergibt, ist das Bild eines Fortschritts im Wissen, in welchem neues Wissen bereits vorhandenem Wissen hinzugefügt wird — nach Analogie der Aufeinanderfolge von Lehrbuchkapiteln, die nun der Schüler nacheinander im Laufe der Schuljahre durchzuarbeiten hat, um so auf die Höhe des gesamthaft inzwischen vorhandenen Wissens der Zeit sich hinaufzuarbeiten. In der Ontogenese des Wissens wiederholt sich seine Phylogenese, und beiderlei Genesen sind stets unabgeschlossen: Das Individuum lernt nie aus und die Menschheit auch nicht.
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Literatur
Cf. dazu Olof GIGON: Die Geschichtlichkeit der Philosophie bei Aristoteles. In: Archivio di filosofia (1954), S. 129–150.
Thomas S. KUHN: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962). Frankfurt a. M. 1967, bes. S. 128ff.: Das Wesen und die Notwendigkeit wissenschaftlicher Revolutionen.
Cf. dazu meinen Aufsatz „Philosophiegeschichte als Philosophie. Zu Kants Philosophiegeschichtsphilosophie.“ In: Einsichten. Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1962, S. 204–229.
Cf. hierzu Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erweiterte Auflage. Tübingen 1972, S. 7ff.
Cf. hierzu meinen kleinen Aufsatz „Dialektik, Gesellschaftssystem und die Zukunft der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Kommentar zum Beitrag von Herbert Hörz“, in: Paul HOYNINGEN-HUENE, Gertrude HIRSCH (Hrsg.): Wozu Wissenschaftsphilosophie? Positionen und Fragen zur gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie. Berlin, New York 1988, 5.252–264. — Als Zeugnis früher amerikanischer Wahrnehmung der Begriffsnamensäquivalenz von „Dialektik” und „feed-back“ cf. Edward G. BALLARD: On the Nature and Use of Dialectic. In: Philosophy of Science 22 (1955), S. 205–213.
Wilhelm NESTLE: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart 1940.
Cf. hierzu Kurt HÜBNER: Aufstieg vom Mythos zum Logos? Eine wissenschaftstheoretische Frage. In: Peter KEMPER (Hrsg.): Macht des Mythos — Ohnmacht der Vernunft? Frankfurt am Main 1989, S. 33–52.
Derek J. SOLLA PRICE: Little Science, Big Science. Von der Studierstube bis zur Großforschung. (1963). Frankfurt a. M. 1974, S. 16.
Cf. hierzu Ernst MACH: Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen. Leipzig 1919. — Ferner Ernst MACH: Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. In: Populärwissenschaftliche Vorlesungen. Leipzig 1896, S. 203–230, S. 209f.
Donalla H. MEADOWS, Denis L. MEADOWS, Jörgen RANDERS, William W. BEHRENS III: The Limits to Growth. New York 1972.
So aber Helmut F. SPINNER, a.a.O. (cf. Anm. 14 ), S. 66f.
Cf. dazu Günter HoTZ: Komplexität als Kriterium in der Theorienbildung. Mainz 1988 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1988. Nr. 1).
Cf. dazu die interdisziplinären Beiträge bei Klaus HIERHOLZER, Heinz-Günter WITTMANN (Hrsg.): Phasensprünge und Stetigkeit in der natürlichen und kulturellen Welt. Wissenschaftskonferenz in Berlin 8.-10. Oktober 1987. Stuttgart 1988.
Günther RoPOHL: Information gibt keinen Sinn, oder: Relevanzdefizit in der Informationstechnik und seine gesellschaftlichen Gefahren. In: Alois HUNING, Carl MITCHAM (Hrsg.): Technikphilosophie im Zeitalter der Informationstechnik. Beiträge zum deutsch-amerikanischen Symposium in Tarrytown, N.Y. und New York September 1983. Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 97–110, S. 107.
Paul HOYNINGEN-HUENE: Kommunikation in der Wissenschaft: Fakten und Probleme. In: Alphons SILBERMANN, Heinz NEUBERT (Ed.): Communications. The European Journal of Communication. 14. Jahrgang, Heft 2 (1988), S. 133–144, S. 134.
Als literarisches Beispiel solcher Ironie cf. Arthur KÖSTLER: Die Herren Call-Girls. Ein satirischer Roman. Bern und München 1971.
Cf. dazu meine Abhandlung „Die Wissenschaften und ihre kulturellen Folgen. Über die Zukunft des Common sense“, Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften G 285, Opladen 1987.
Cf. dazu exemplarisch meine wissenschaftskulturgeschichtliche Untersuchung „Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du Bois-Reymond“, in: Hermann LÜBBE: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus. Graz, Wien, Köln 1989, S. 257–274.
Cf. hierzu das Kapitel „Weltverbesserung aus,Wissenschaftlicher Weltanschauung“` in meinem Buch „Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte”, Basel/Stuttgart 1963, S. 127–172.
Wilhelm OSTWALD: Monistische Sonntagspredigten. Leipzig 1911 ff.
Diese Kennzeichnung galt seiner berühmt gewordenen Altenburger Rede „Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“ (1892), in: Ernst HAECKEL: Gemeinverständliche Werke. Herausgegeben von Heinrich SCHMIDT. Fünfter Band. Vorträge und Abhandlungen. Leipzig und Berlin 1924, S. 407–444.
Cf. dazu Marcel C. LA FOLLETTE (ed.): Creationism, and the Law. The Arkansas Case. Cambridge, (Mass.), London 1983. - Zu den religionskulturellen und staatskirchenrechtsgeschichtlichen Hintergründen cf. Elwyn A. SMITH: Religious Liberty in the United States. Development of Church State Thought since the Revolutionary Era. Philadelphia 1972.
Papst JOHANNES PAUL II.: Ansprache an Wissenschaftler und Studenten im Kölner Dom am 15. November 1980. In: Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden. 15.-19. November 1980. Offizielle Ausgabe. Bonn 1980, S. 26–34.
Joseph RATZINGER: Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie. In: Hans-Jürgen SCHULTZ (Hrsg.): Wer ist das eigentlich: Gott? München 1969, S. 232–245.
Wie zum Beispiel Wolfgang Priester anzunehmen geneigt ist: Wolfgang PRIESTER: VOM Ursprung des Universums. In: Heinz MAIER-LEIBNITZ (Hrsg.): Zeugen des Wissens. Mainz 1966, S. 127–156, bes. S. 141ff.
Karl R. POPPER: The Rationality of Scientific Revolutions. In: Rom HARRE (ed.): Problems of Scientific Revolution. Progress and Obstacles to Progress in the Science. Oxford 1975, bes. S. 88ff.
Stephen W. HAWKING: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Mit einer Einleitung von Carl SAGAN. Deutsch von Hainer KOBER unter fachlicher Beratung von Dr. Bernd SCHMIDT. Reinbek b. Hamburg 1988.
Ernst HAECKEL: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. 341.-360. Tausend. Leipzig 1918.
M. Rainer LEPSIUS: Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1967. In: Günther LÖSCHEN (Hrsg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Opladen 1979, S. 25–70.
Zur Fälligkeit der Kritik an der vermeintlich gesellschaftskritiklosen akademischen Wissenschaft cf., als ein beliebiges Beispiel unter zahllosen seinesgleichen, Stephan LEIBFRIED: Die angepaßte Universität. Zur Situation der Hochschulen in der Bundesrepublik und in den USA. Frankfurt a. M. 1968. — Zur analogen Kritik an den angeblich unkritisch angepaßten Ingenieurwissenschaften cf. exemplarisch Gerd HORTLEDER: Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Zum politischen Verhalten der technischen Intelligenz in Deutschland. Frankfurt a. M. 21970. — Die Behauptung von der begrenzten oder „halbierten“ Rationalität der sogenannten „positivistischen” Wissenschaften war damals der Auslöser des wirkungsreichen Streits der angegriffenen „Positivisten“ mit den Repräsentanten einer sich über die „traditionelle” Theorie hinaus wissenden „kritischen Theorie“: Theodor W. ADORNO u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969). Neuwied, Berlin 31971.
So Horst BAIER: Die Revolution der Wissenschaft zwischen Hochschulreform und politischer Revolte. In: Horst BAIER (Hrsg.): Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der deutschen Hochschule. Bielefeld 1968, S. 7–24, S. 21.
Universität und Politik, Arbeitsblätter I des Wissenschaftspolitischen Clubs Münster, Berlin 1967, auszugsweise abgedruckt bei Horst BAIER, a.a.O., S. 23.
Cf. dazu meine Abhandlung „Hochschulpolitik in der BRD und in der Schweiz. Ein Vergleich“, in: Lord ANNAN, Michel DEVEZE, Hermann LUmE: Universität gestern und heute. Salzburg, München 1973, S. 45–66.
Cf. dazu die repräsentative Sammlung von Horst Albert GLASER (Hrsg.): Hochschulreform — und was nun? Berichte — Glossen — Perspektiven. Frankfurt/ M., Berlin, Wien 1982.
Cf. dazu Kurt HÜBNER: Die Wahrheit des Mythos. München 1985. — Ferner Peter KEMPER (Hrsg.): Macht des Mythos—Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a. M. 1989.
Karl J. NARR: Zeitmaße in der Urgeschichte. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. G 224. Opladen 1978, S. 16, 18.
So nach der Formulierung von Hans-Joachim QUEISSER: Die Siliziumzeit. In: Heinz MAIER-LEIBNITZ (Hrsg.): Zeugen des Wissens. Mainz 1986, S. 203–236.
Cf. hierzu die große Studie zum Selbstverständnis der amerikanischen und französischen Revolutionäre von Hannah ARENDT: Über die Revolution. München 1963.
Cf. Hartmut BOOCKMANN: Die Gegenwart des Mittelalters. Berlin 1988, S. 23.
Lynn WHITE: Medieval Religion and Technology. Collected Essays. Berkeley, Los Angeles, London 1978, S. X I.
So Martin HEIDEGGER: Die Frage nach der Technik. In: Martin HEIDEGGER: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 13–44, S. 23.
Cf. hierzu mein Buch „Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong 21994.
Informationsdynamik und wissenschaftlich-technische Evolution
So Martin HEIDEGGER in dem Abschnitt „Das Ding und das Werk“ in seiner großen Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerkes”, in: Martin HEIDEGGER: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentliche Schriften 1914–1970. Band V. Holzwege, S. 1–74, S. 15.
Cf. hierzu meine Abhandlung „Universitäten im kulturellen Wandel–forschungspolitische Aspekte“, in: Erhard BUSEK, Wolfgang MANTL und Meinrad PETERLICH (Hrsg.): Wissenschaft und Freiheit. Wien, München 1989, S. 164–173.
Cf. dazu meine Abhandlung „Deutscher Idealismus als kulturpolitische Philosophie“, in: Hermann LÜBBE: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus. Graz, Wien, Köln 1989, S. 163–186, bes. S. 172ff.
David S. LANDES: Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Europa von 1750 bis zur Gegenwart (1969). Köln 1973, S. 479.
Zeittabellen von 1800— 1978. Neubearbeitung von Willy KELLER. Herausgegeben vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund zum 100jährigen Bestehen 1880–1980. Bern 1980, S. V II.
Friedrich KLEMM: Geschichte der Technik. Der Mensch und seine Erfindungen im Bereich des Abendlandes. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 7–14 („Zeittafel“).
Cf. exemplarisch Karl-Heinz MOMMERTZ: Bohren, drehen und fräsen. Geschichte der Werkzeugmaschinen, mit einem Anhang „Werkzeugmaschinen im Deutschen Museum“ von Karl ALLWANG. Reinbek b. Hamburg 1981, S.9–19 („Zeittafel”).
Cf. Wolfram FISCHER: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter. Göttingen 1982.
Joachim VARcHMIN/Joachim RADKAU: Kraft, Energie und Arbeit. Energie und Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 113.
Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten. Herausgabe der deutschen Übersetzung Reinhard KAISER. Frankfurt am Main 271981 (Amerikanische Originalausgabe Washington 1980).
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Lübbe, H. (2003). Informationsdynamik und wissenschaftlich-technische Evolution. In: Im Zug der Zeit. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-38360-4_7
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