Zusammenfassung
Der europäische Integrationsprozeß befindet sich wieder einmal in einer Krise, wie so oft in seiner bisherigen Geschichte seit 1952. Zwar droht heute nicht ernsthaft ein Zerfall der Europäischen Union, aber es wird durchaus über eine denkbare, von manchen gar erwünschte Regression des Integrationsprozesses gestritten, etwa die Abschaffung des Euro oder den Ausschluß einzelner Länder aus der Euro-Zone. In anderen Ländern streben seit Jahren politisch relevante Minderheiten den Austritt aus der EU an oder sie betreiben die Erweiterung der EU mit dem Ziel, die europäische Integration auf ihre ursprünglichen wirtschaftspolitischen Funktionen zu beschränken. Weitergesteckte, bereits konkret vereinbarte Ziele sind immer wieder gescheitert. Seit dem französischen und niederländischen Nein zum Verfassungsvertrag ist die Bereitschaft zu neuen Erweiterungen der EU drastisch gesunken, obwohl an der prinzipiellen Offenheit der EU für alle europäischen Staaten nicht gerüttelt wird.
Die bisherigen sechs bzw. sieben Erweiterungen der EG bzw. der EU waren oft mit einer Vertiefung der Integration, d. h. einer Ausdehnung der Kompetenzen oder gar einer Veränderung der Entscheidungsregeln der EG- bzw. EU-Organe verknüpft. Dabei wurden die noch immer bescheidenen föderativen gegenüber den nach wie vor vorherrschenden konföderativen Charakteristika des europäischen Staatenverbunds gestärkt. Strittig bleibt nach wie vor das Fernziel der europäischen Integration und die Bestimmung einer gemeinsamen Integrationsgrundlage: eine schlicht geographische, eine verfassungspolitische, eine sicherheitspolitische, eine religiös-konfessionelle, eine kulturgeschichtliche oder ein Mixtum aus unterschiedlichen Integrationsmotiven. In allen Ländern ist die Bereitschaft zur europäischen Integration bei den Eliten stärker entwickelt als die der nationalen öffentlichen Meinungen. Deshalb sind erhebliche Anstrengungen darauf zu richten, die Entstehung einer europäischen öffentlichen Meinung mit einer entsprechenden mehrsprachigen Diskussionskultur zu richten.
Bei einer Debatte über die Mitgliedschaft neuer Länder und die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union sind nicht nur die inneren unionspolitischen Kosten und Belastungen in Rechnung zu stellen, sondern auch die äußeren, die durch die Verweigerung der EU-Mitgliedschaft entstehen. Die europäische Nachbarschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft sind Versuche, den Abgrenzungseffekt der EU-Außengrenzen zu mildern. Vorerst bleiben die Politiker in Europa gezwungen, erhebliche Konzessionen an das geringere Europabewußtsein der Bevölkerung zu machen. Deshalb werden sie in naher Zukunft eher bereit sein, reichere Länder wie die Schweiz und Norwegen, auch kleinere Länder wie Island und Kroatien in die EU aufzunehmen, als große und ärmere Länder wie die Türkei und die Ukraine.
Vorlesung vom 31. Mai 2010 in Frankfurt und vom 6. Juni 2005 in Mannheim.
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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Jahn, E. (2012). Die Grenze zukünftiger Erweiterungen der Europäischen Union. Zur umstrittenen Mitgliedschaft der Türkei, der Ukraine und anderer Staaten. In: Politische Streitfragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94313-8_2
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