Zusammenfassung
Zu den zahlreichen Motiven für die zwischenstaatliche Vereinigung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte vor allem der friedens- und sicherheitspolitische Wunsch, unbedingt das Zeitalter der Kriege zwischen den Nationalstaaten in Europa und des aggressiven und intoleranten Nationalismus zu beenden und einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Aus diesem Grunde sollte im demokratischen und marktwirtschaftlichen Westen Europas eine eng verbundene Europäische Staatengemeinschaft geschaffen werden. Sie sollte offen bleiben für alle europäischen Staaten, insbesondere auch die im Osten, sobald diese sich von der kommunistischen Herrschaft befreit hätten.
Die staatlich-institutionelle Integration in Westeuropa sollte durch eine enge wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung und durch eine Erziehung zur Völkerversöhnung, anfangs vor allem zwischen Deutschen und Franzosen, und zum europäischen Gemeinbewußtsein untermauert werden. Im Kalten Krieg wurde das Kriegsvermeidungsmotiv durch das Motiv des Antitotalitarismus, insbesondere des Antinazismus, erweitert. Als besonderes Charakteristikum des Nationalsozialismus trat dann erst in den 1960er Jahren mehr und mehr die Massenmordpolitik gegenüber den Juden und anderen ins allgemeine Bewußtsein. Gleichzeitig erhielt Geschichts-, Erinnerungs-, Gedächtnis- und Gedenkpolitik einen immer größeren Stellenwert und wurde damit gelegentlich zu einem Streitgegenstand.
Der Ermordung der Juden wird seit 1959 offiziell in Israel gedacht. In Deutschland wurde 1996 der 27. Januar zum nationalen Gedenktag „für die Opfer des Nationalsozialismus“. Die Verurteilung der Ermordung der Juden und generell von Gewaltpolitik wurde zu einem Kernelement der politischen Identität der Bundesrepublik Deutschland und auch der Europäischen Union. 2005 erklärten die Vereinten Nationen diesen Tag zum Holokaust-Gedenktag.
Mit der Aufnahme von postkommunistischen Ländern in die EU kam das Verlangen auf, auch der Opfer der kommunistischen Massenmorde, gleichberechtigt mit denen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken. Schließlich legte das Europäische Parlament im April 2009 den 23. August als Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime fest. Darüber entstand ein heftiger Streit über die Gleichsetzung von nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft und von beiden Massenmorden. Es ist demgegenüber durchaus möglich, das Gedenken an den Völkermord an den Juden sowie Sinti und Roma als historisch singulärem, exterministischem Ereignis mit dem Gedenken an andere umfangreiche Völker- und Massenmorde zu verknüpfen, da auch das Gedenken an den Mord an den Juden jeglichem zukünftigen Völker- und Massenmord vorbeugen soll.
Vorlesung vom 14. Juni 2010 in Frankfurt.
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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Jahn, E. (2012). Von der westeuropäischen Erinnerung an Auschwitz zur gesamteuropäischen Erinnerung an Auschwitz und den Archipel GULag – eine fällige gedenkpolitische Folge der Osterweiterung der EU. In: Politische Streitfragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94312-1_7
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