Zusammenfassung
Fasst man Punitivität als die Anwendung rigider und strafender Reaktionsmuster auf unerwünsch tes oder abweichendes Verhalten, dann passen Gesundheit (bzw. Krankheit) und Punitivität im Grunde nicht zusammen. Zwar handelt es sich im strengen Sinne auch bei Krankheiten um „abweichendes Verhalten“ (Becker 1973: 4 ff.) bzw. abweichende Zustände, aber der Zurechnungsmodus der Abweichung ist bei Krankheit ein grundsätzlich anderer als beim klassischen Anwendungsfall punitiver Reaktionen: dem „kriminellen“ Verhalten. Aus der Perspektive sozialer Kontrolle sind Kriminalisierung und Pathologisierung als unterschiedliche Diagnosemuster zu verstehen, die sehr verschiedene Reaktionen nach sich ziehen: „Der wichtigste Unterschied zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung liegt im Grad der Zuschreibung von Verantwortung. Der Kriminelle wird für ein gewolltes Handeln zur Rechenschaft gezogen, dem Kranken aus einem ungewollten Zustand, an dem er selbst leidet und aufgrund dessen ihm sein abweichendes Verhalten für eine gewisse Zeit nachgesehen wird, herausgeholfen; der Kriminelle wird bestraft, der Kranke behandelt“ (Hess 1983: 15).
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Schmidt-Semisch, H., Schorb, F. (2011). „Live and Let Die“: Umrisse einer Punitivität im Kontext von Gesundheit und Krankheit. In: Dollinger, B., Schmidt-Semisch, H. (eds) Gerechte Ausgrenzung?. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94083-0_11
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