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Die Kritik an der schichtspezifischen Forschung (1970er–1980er Jahre)

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Sozialisation und Ungleichheit

Part of the book series: Bildung und Gesellschaft ((BILDUNGUG))

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Zusammenfassung

Lareaus Forschungserkenntnisse haben in der Debatte über ungleiche Sozialisationsbedingungen zweifellos wichtige Markierungen der schichtspezifischen Forschung wieder aufnehmen können. Wenn sie im Rahmen der ethnographischen Forschung die Kinder und Jugendlichen auf dem Weg in die Arztpraxis begleitet, beobachtet, wie die Jugendlichen den Ärzten die Hand geben und in die Augen schauen, wie sie versuchen zu folgen, worüber gesprochen wird, sie sich in die Konversation einmischen, Mut entwickeln, wenn es darum geht dem Lehrer zu widersprechen usw., verleiht dies den älteren Erkenntnissen Kohns erneut Gewicht. Über all diese Verhaltensweisen resümiert Kohn, dass sie Ausweis bildungsnaher Erziehungspraktiken darstellen. Und diese haben die bekannte Konsequenz: ein bestimmter Mechanismus der Erziehung, der als Förderung der Fähigkeit zur Selbststeuerung verstanden werden kann („self-direction“), führt zur Passung, Förderung von Konformität führt zur Nicht-Passung. Auch hier existieren die bekannten Startvorteile und -nachteile. Ein vorläufiges Fazit muss darum zum einen beinhalten, dass die schichtspezifische Forschung ein weiterhin hohes Maß an Aktualität besitzt. Der Zusammenhang zwischen den Sozialisationsbedingungen und Startvorteilen bzw. -nachteilen scheint fortzubestehen, die sozialen Ungleichheiten einer Gesellschaft behalten ihre Konsequenzen für die Lebensführung von Kindern und Jugendlichen, Lebensbedingungen werden übersetzt in bestimmte Erziehungsstile und spezielle Sprachcodes.

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Notes

  1. 1.

    Weil die Einführung nur schemenhaft beschreiben soll, bleibt hier ganz ausdrücklich die Würdigung ausgespart, die die schichtspezifische Sozialisationsforschung in der wissenschaftlichen Diskussion natürlich auch erfahren hat. So etwa die mit den Erfolgen der akademischen Forschung verbundenen politischen Forderungen nach der Verringerung von sozialen und Bildungsungleichheiten. AutorInnen wie Klaus Hurrelmann bezeichnen es vollkommen zu Recht als die große Leistung schichtspezifischer Ansätze, erstmals für eine „Verbesserung der Sozialisations- und Bildungschancen gesellschaftlich relativ unterprivilegierter Gruppen und Schichten“ (Hurrelmann 1976b, S. 26) eingetreten zu sein.

  2. 2.

    Nach Schärfe und Konsequenz dieser Kritik lassen sich etwa die Positionen von Abrahams und Sommerkorn (1976) und Bertram (1979, 1981), die die schichtspezifische Sozialisationsforschung „verabschieden“, von der Oevermanns (z. B. 1976) unterscheiden, der für eine konstruktive Weiterentwicklung unter Beibehaltung des Paradigmas eintritt.

  3. 3.

    Hier wie im Folgenden beziehe ich mich – wenn nicht anders kenntlich gemacht – auf die relevante Primär- und Sekundärliteratur zum Werk von George Herbert Mead. So Mead (1995); Joas (1980); Wenzel (1990); Abels und König (2010), Kap. 5; Veith (2008).

  4. 4.

    Der Neuhegelianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt das Wiederaufkommen einer philosophischen Strömung, vor allem in Deutschland, den Niederlanden und Italien, die an den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) anschließt. Der Neuhegelianismus wird durch Einflüsse des Neukantianismus und der Lebensphilosophie gespeist und insbesondere Wilhelm Dilthey, der spätere Lehrer Meads (s. unten), spielt für diese Denkrichtung eine besondere Rolle. Bei Mead führt sie zu einer strengen kritischen Ausrichtung seiner wissenschaftlichen Arbeiten und zu einer philosophischen Haltung, die seine Skepsis am Subjektmodell des Idealismus stärkte. Für Mead sieht der Idealismus das handelnde Subjekt zu strikt von den umgebenden Strukturen getrennt, seine eigene Haltung sah gerade vor, das Subjekt in seiner Entwicklung von den umgebenden Strukturen als abhängig anzusehen und die Interaktionseffekte zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung als prägend für die Entwicklung zu begreifen.

  5. 5.

    Klaus Hurrelmann wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die frühere Rezeption Meads im Strukturfunktionalismus des Mead-Schülers Talcott Parson. Parson habe die Bedeutung der „I“-Entwicklung (Individuation) in seiner handlungs- und sozialisationstheoretischen Konzeption der Funktion des „Me“ (Vergesellschaftung) lediglich subsumiert. Damit werden – wie mit Hurrelmanns Funktionalismus-Kritik nur bestärkt werden kann – individuelle Autonomiepotenziale negiert (also verneint) und das Verständnis für Phänomene des gesellschaftlichen Wandels versperrt.

  6. 6.

    Aber nicht aus der konstruktivistischen Entwicklungstheorie in der Tradition Jean Piagets. Dieser hat zwar den „Entwurf eines aktiven Bildes vom Individuum, gegen die missverständliche und verkürzte Konzeption der Behavioristen“ (Hurrelmann 1983a, S. 94) verdienstvoll geprägt. Hurrelmann kritisiert jedoch, dass Piaget die „innerindividuelle Sphäre“ der menschlichen Entwicklung überschätzt. Die einzelne Person interagiert in Piagets Vorstellung nicht mit der Umwelt: Menschliche Entwicklung findet „letztlich isoliert von der sozialen Lebenswelt statt.“ (ebd.)

  7. 7.

    Aufgabe der Pädagogik ist es unterdessen, aufgrund der Kenntnis der Sozialisationsmechanismen das menschliche Individuum sowie seine soziale und dingliche Umwelt so zu stimulieren und zu beeinflussen, „daß eine nach persönlichen und zugleich nach gesellschaftlichen Kriterien wünschenswerte Persönlichkeitsentwicklung zustande kommt.“ (Hurrelmann 1986, S. 9.)

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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden

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Bauer, U. (2012). Die Kritik an der schichtspezifischen Forschung (1970er–1980er Jahre). In: Sozialisation und Ungleichheit. Bildung und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93488-4_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-93488-4_3

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-18189-9

  • Online ISBN: 978-3-531-93488-4

  • eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)

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