Zusammenfassung
Gegen Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beginnen Netzwerk-Theorien (Latour, Castells) in den Sozialwissenschaften die bislang dominierenden System-Theorien (Luhmann, Ropohl) abzulösen. Das hat weitreichende Folgen. Insbesondere bedeutet diese Verschiebung einen Einspruch gegen wichtige sozialwissenschaftliche Theorietraditionen, Traditionen etwa, die seit Max Weber soziales Handeln an den subjektiven Sinn und an konkrete Individuen binden bzw. in der Nachfolge Émile Durkheims Soziales nur durch Soziales zu erklären suchen (Weber 1922; Durkheim 1984). So rechnet zum Beispiel die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Tradition Durkheims stehend, Objekte und Sachverhalte der Natur sowie technische Artefakte zur externen Umwelt des Sozialsystems. Luhmanns Systemtheorie ist eine Differenztheorie (1984, 115 f). Weil „Gesellschaft“ das zentrale Objekt soziologischen Erkenntnisstrebens ist und „Gesellschaft“ sich Luhmann zufolge aus dem konstituiert, was kommunikativ erreichbar ist, operiert seine Systemtheorie folgerichtig mit der Leitdifferenz von kommunikativ erreichbar vs. nicht erreichbar. Sachverhalte wie Technik, die jenseits der Kommunikation liegen, entziehen sich dann zwangsläufig soziologischem Zugriff. Sie sind kein genuiner Erkenntnisgegenstand der Soziologie: außersozial. Sie gehören zur Umwelt der Gesellschaft. Für Luhmann besteht das wesentliche Merkmal der modernen Gesellschaft in der funktionalen Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme. Gemeint ist damit, dass Teilsysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien etc. je spezifische Funktionen für die gesellschaftliche Reproduktion erbringen. Jedes Teilsystem operiert nach einer von den anderen Teilsystemen unabhängigen Logik, die bestimmten, in binären Codes formulierten Leitdifferenzen folgt: zahlen vs. nicht zahlen, wahr vs. falsch, neu vs. nicht neu etc. Jedes gesellschaftliche Subsystem verarbeitet Informationen entsprechend seiner binär codierten Leitdifferenz. Dabei greift es auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zurück, wie etwa Geld, Wahrheit, Neuigkeit, und bedient sich, um seine Effizienz zu steigern, der Technik. Die einzelnen Funktionssysteme tun das in je spezifischer Weise: die Wirtschaft zur Steigerung von Umsätzen, die Wissenschaft zur effizienteren Wahrheitsfindung bzw. Wissensproduktion, die Massenmedien zur schnelleren Verbreitung von Informationen. Auch für Jürgen Habermas, der, im Gegensatz zu Luhmann, den Systembegriff in kritischer Distanz verwendet, ist die Unterscheidung von System und, wie er es nennt, Lebenswelt, von instrumentellem und kommunikativem Handeln zentral (Habermas 1981).
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Bammé, A., Berger, W., Kotzmann, E. (2012). Vom System zum Netzwerk: Perspektiven eines Paradigmenwechsels in den Sozialwissenschaften. In: Greif, H., Werner, M. (eds) Vernetzung als soziales und technisches Paradigma. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93160-9_2
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