Zusammenfassung
Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Problematik der Normativität im Marxismus erledige sich nahezu von selbst. Es scheint, zur Klärung dieses Problems reiche der Verweis auf die berühmt-berüchtigte Formel der Parteilichkeit aus, deren Folgen zuweilen in der Tat furchterregend waren: Dass die Partei immer recht hatte, wie es in einem zurecht weithin vergessenen Lied hieß, bedeutete nicht nur ein moralisches Recht, auf der richtigen Seite zu stehen, sondern auch ein welthistorisches sowohl auf die richtige Analyse, als auch auf die Linie des revolutionären Fortschritts. In den Jahren des stalinistischen Terrors haben diese Vorstellungen einige der klügsten und weitsichtigsten unter den Bolschewiki den Kopf gekostet, und anderthalb Jahrzehnte später wurden die bizarren Ansichten des Biologen Lysenko auf der Grundlage dieser fragwürdigen Epistemologie zur Parteidoktrin erhoben. Auch in den folgenden Jahrzehnten stand auf der Abweichung von dem, was offiziell als Marxismus-Leninismus propagiert wurde, zumindest für Historiker oder Sozialwissenschaftler wenn nicht Lagerhaft, so doch das faktische Berufsverbot. Daraus ergeben sich zwei berechtigte Fragen: zunächst, was dies alles mit Wissenschaft zu tun haben mag und dann, in welcher Beziehung diese von ihren Vertretern emphatisch als Wissenschaft mit Alleingültigkeitsanspruch vertretene Konzeption zur Marxschen Theorie steht. Gerade die letztere Fragestellung erscheint bedeutsam, soweit diese Theorie nach wie vor als einer der klassischen Entwürfe der Gesellschaftstheorie gelten kann. Dann aber erhält auch die erste Frage, die für die Rezeption dieser Theorie im 20. Jahrhundert entscheidende Bedeutung beanspruchen dürfte, zumindest als Lehrstück für die Problematik der Politisierung von Theorie ebenso wie des politischen Anspruchs gesellschaftstheoretischer Konzeptionen ihre Bedeutung. Will man sich darüber hinaus des Umgangs von Marx mit dem Problem der Normativität vergewissern und klären, was daraus heute zu lernen ist, lässt sich der hier einleitend angesprochene Fragenkomplex schwerlich umgehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich den Versuch machen, in einem ersten weiteren Schritt den epistemologischen Zugriff von Marx zu erläutern, soweit er für die Normativitätsproblematik von Bedeutung ist und dann seinem emphatisch vorgetragenen Anspruch auf Objektivität nachzugehen, der zumindest auf den ersten Blick in schreiendem Gegensatz zu den eingangs vorgetragenen, vermutlich nach wie vor am weitesten verbreiteten Vorstellungen über Marx und die Normativitätsproblematik stehen. Abschließend soll die Problematik des Marxschen Umgangs mit dem Normativitätsproblem durch einen Blick auf seine Geschichts- und Fortschrittskonzeption noch schärfer gefasst werden.
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Kößler, R. (2011). Normativität bei Marx. In: Ahrens, J., Beer, R., Bittlingmayer, U.H., Gerdes, J. (eds) Normativität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93010-7_2
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