Zusammenfassung
Selbsthilfezusammenschlüsse als Element von „New Public Health“ sind in Deutschland vor ca. 30 Jahren zuerst thematisiert worden und seitdem in der Diskussion geblieben. Die Anfänge und Wurzeln dieser neuen Selbsthilfebewegung liegen allerdings noch weiter in der Vergangenheit:
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Ende der 1920er Jahre nannte der Sozialpolitik-Theoretiker Heimann die Selbsthilfe ein „Element sozialer Bewegungen“, das dem kapitalistischen Staat Veränderungen im Sinne einer „antikapitalistischen Dynamik“ abrang (Badura 1981: 147f.).
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Die Geschichte der Krankenkassen ist in ihren Ursprüngen eine Geschichte von Selbsthilfevereinen zum Schutz gegen die ökonomisch katastrophalen Folgen, die Arbeitern drohten, wenn sie krank wurden. Dies veränderte sich erst mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung.
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Auch die Geschichte der Genossenschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts enthält wesentliche Merkmale einer Selbsthilfebewegung. Dies gilt sowohl für die Konsumgenossenschaften (Lebensmittel-Assoziationen), Handwerker-, Landwirtschaftsgenossenschaften als auch andere „Formen von Vereinen und Assoziationen, für die 1889 ein Reichsgesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ erlassen wurde (Bösche o. J.). Die Genossenschaften wurden jedoch im Nationalsozialismus zunehmend zurückgedrängt und 1941 völlig zerstört, indem ihre Einrichtungen in das sogenannte Gemeinschaftswerk der deutschen Arbeitsfront überführt wurden (Bösche o. J.).
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Interessanterweise erfolgte die „Wiedergeburt“ der Genossenschaften in starkem Maße unter der Überschrift „Selbsthilfe“. 1956 erschien anlässlich der 8. Tagung der Internationalen Konferenz für Sozialarbeit eine Broschüre mit dem Titel „Erfolge solidarischer Selbsthilfe in der Bundesrepublik Deutschland“. Der „Ständige Ausschuss für Selbsthilfe“ wollte „mit dieser Schrift vor allem den ausländischen Gästen der Münchner Konferenz einen Überblick geben über die mannigfaltigen Bestrebungen, Unternehmensformen und Erfolge der Selbsthilfebewegung in der Bundesrepublik Deutschland“ (Ständiger Ausschuss 1956: 1). Darin wird von „fast 30.000 Unternehmen der solidarischen Selbsthilfe“ gesprochen. Im Einleitungsabschnitt wird formuliert:
Die Verwendung des Begriffs Selbsthilfe im Text steht allgemein für Selbsthilfe, Selbsthilfeorganisationen/Selbsthilfegruppen und Selbsthilfekontaktstellen bzw. Selbsthilfe-Unterstützungsstellen.
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Trojan, A. (2011). „Selbsthilfebewegung“ und Public Health. In: Schott, T., Hornberg, C. (eds) Die Gesellschaft und ihre Gesundheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92790-9_4
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