Zusammenfassung
Der Begriff „Reziprozität der Perspektiven“ findet sich erstmals bei Theodor Litt (1926). Die Reziprozität der Perspektiven ist eng mit der Rollenreziprozität verwandt. Gemeint ist damit, dass der Einzelne sich in die Rolle des anderen hineinversetzen kann, seinen Standpunkt einnehmen kann: Der Einzelne übernimmt in Gedanken die Rolle, die Perspektive des anderen. Diese Perspektivenübernahme ist, so Mead (1973: 300f, erstmals 1934) von unmittelbarer Bedeutung für die Entstehung der kooperativen Gesellschaft. Mittels der Perspektivenübernahme könne der Einzelne seine Reaktion auf den anderen kontrollieren. Dabei geht es nicht nur darum, Erwartungen an das Handeln, an die Reaktion des anderen zu richten. Letztlich handelt es sich um eine selbstreflexive Perspektive, nämlich hinsichtlich der Frage, wie der andere einen selbst wahrnimmt, welche Handlungen dieser von einem selbst erwartet. Die Nähe zur Rollenreziprozität ergibt sich dadurch, dass hierbei permanent mit Typisierungen gearbeitet wird (Berger & Luckmann 1977: 33). Als Patient erwartet man vom Arzt, dass dieser anlässlich eines Besuches in der Sprechstunde die Schilderung von Krankheitssymptomen erwartet. Der Patient vermutet, dass der Arzt den Bericht benötigt, um seine Diagnose stellen zu können. Zudem weiß der Patient schon aus Erfahrung, dass der Arzt, sofern der Kranke nicht schon von selbst über seine Beschwerden berichtet, für gewöhnlich danach fragt. Auf der anderen Seite rechnet der Arzt damit, dass der Patient selbst nach den Symptomen befragt werden möchte. Selbst wenn die Diagnose auch ohne die Antworten des Patienten klar erscheint, wird der Arzt daher nicht auf die Befragung verzichten. Eine solche Rollen-Typisierung wird gewöhnlich von allen Seiten vorgenommen (nicht nur der Arzt und der Patient teilen die geschilderten Erwartungen an das Anamnesegespräch – auch die Außenstehenden, etwa die Sprechstundenhilfe oder Zuhörer, wenn der Patient bei anderen über seine Erfahrung beim Arzt berichtet).
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© 2011 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Stegbauer, C. (2011). Reziprozität der Perspektiven. In: Reziprozität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92612-4_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92612-4_6
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-17641-3
Online ISBN: 978-3-531-92612-4
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