Zusammenfassung
Deutschland ist kein Einwanderungsland! Viele Jahrzehnte haben Öffentlichkeit und Politik mit und von dieser Vorstellung gelebt. Migrations- bzw. Integrationspolitik wurde lange Zeit nicht als integraler Teil der Sozialpolitik verstanden. Betrachtet man die einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu Lebenslagen von Migrantinnen und Migranten und damit den konkreten Folgen dieser Denk- und Handlungsweise wird zweierlei deutlich: Zum einen verstärkt der Migrationsstatus als intervenierende Variable in vielen (Lebens-)Bereichen (vor allem Bildung und Arbeitsmarkt) soziale Ausgrenzungsrisiken, von denen auch benachteiligte deutsche Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Zum zweiten erschwerte eine vor allem auf Abgrenzung zielende Zuwanderungspolitik ein integrationsförderndes gesellschaftliches Klima. So fehlt es auf beiden Seiten oft an einem vertieften gegenseitigen Verständnis und entspannten Miteinander. Dies gilt umso mehr, je größer kulturelle bzw. habituelle Unterschiede sind. Im Ergebnis stellt so für viele Zugewanderte bis heute der Migrationsstatus an sich ein entscheidendes soziales Ausgrenzungsrisiko dar, weshalb beispielsweise junge Migranten selbst bei vergleichbaren Qualifikationen schlechtere berufliche Eingliederungschancen aufweisen (vgl. Boeckh/Kunz 2008).
Wenn man sich gleichzeitig in Erinnerung ruft, dass die deutsche Geschichte eigentlich immer auch Migrationsgeschichte war, mag es erstaunen, dass wir uns gerade in den letzten 65 Jahren so schwer damit getan haben, diesem Land ein klares integrationspolitisches Profil zu geben. Bis weit in die 1990er Jahre lebten weite Teile der Politik in der Vorstellung Migranten wären eine besondere Form von Leiharbeitern, die nach Gebrauch an die Agentur ‘Heimatland’ zurück gegeben werden. Erst mit der rot-grünen Regierungskoalition ist Bewegung in diese Lebenslüge deutscher Einwanderungspolitik gekommen. Es hat den Anschein als seien die ideologischen Schlachten weitgehend geschlagen und der Ruf nach einer aktiv gestaltenden Integrationspolitik zum politischen Allgemeingut geworden. Auf den zweiten Blick mag man jedoch mit Catull ausrufen: „Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior!“ Denn wenn auch wichtige Schritte in den letzten zehn Jahren eingeleitet wurden, ein stimmiges Konzept zur Einwanderungspolitik zeichnet sich trotz Integrationsgipfeln und Nationalem Integrationsplan bis heute nicht ab. Hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis nach Wahrung nationaler Identität und der Notwendigkeit ein weltoffenes, migrationsfreundliches Gemeinwesen zu entwickeln, das auch und gerade bereits in Deutschland lebenden benachteiligten Migrantengruppen eine echte Chance auf Teilhabe eröffnet, fehlt es den politischen Eliten bislang an Ideen, am Mut und letztlich wohl auch am Willen Integrationspolitik im Sinne einer umfassenden Gesellschaftspolitik weiterzuentwickeln. Die Bewertung der Integrationserfolge bleibt so bis heute ambivalent und die Einwanderungsgesellschaft Deutschland ein Vexierbild, in dem je nach Blickwinkel erfolgreiches und gescheitertes multikulturelles Miteinander zu erblicken sind.
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Boeckh, J. (2010). Sozialpolitik als Integrationspolitik? Anmerkungen zu einer Einwanderungsgesellschaft, die keine sein wollte. In: Benz, B., Boeckh, J., Mogge-Grotjahn, H. (eds) Soziale Politik – Soziale Lage – Soziale Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92549-3_7
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