Zusammenfassung
Die Goldene Regel ist ein uraltes, in den verschiedensten Kulturen verbreitetes, quasi überall gleichermaßen ‚entdecktes‘ Moralprinzip. In Deutschland ist die auf das Alte Testament zurückgehende Formel gebräuchlich: ‚Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu.' Mehrere Momente an dieser Formulierung sind – auch für ein modernes Moralverständnis – bedeutsam:
-
Es handelt sich um eine Negativformel: ‚Was du nicht willst, … das tu auch nicht.' Es gibt auch positive Varianten der Goldenen Regel. So etwa heißt es im Neuen Testament: „Alles was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso“ (Mt 7,12; ähnlich Lk 6,31). Hoche (1998) meint, sich auf Singer (1967) berufend, es gäbe weder logisch noch moralisch relevante Differenzen zwischen diesen beiden Formulierungen, sofern jede Handlung positiv und negativ beschreibbar sei; so etwa sei die Regel ‚Du sollst nicht lügen!‘ gleichbedeutend mit dem Satz ‚Du sollst (schweigen oder) die Wahrheit sagen!‘. Dies werde ich im Folgenden bestreiten.
-
Es handelt sich – in Kants Terminologie – um eine Rechtsnorm, nicht um eine Tugendpflicht: … ‚daß man dir tu, das füg … keinem zu.' Bezug ist allein das äußere Tun; von Motiven ist keine Rede. Gedankenzensur ist nicht intendiert.
-
Kriterium ist das Wollen des Adressaten: ‚Was du nicht willst, …'. Ursprüngliche Vergeltungsnormen, z.B. ‚wie du mir, so ich dir' oder ‚Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn', koppeln die eigene Reaktion unmittelbar an des anderen Tat. Die Goldene Regel hingegen unterstellt ein selbstbestimmtes Menschenbild. Weder ruft die Handlung des anderen reflexhaft eine spiegelbildlich identische Antwort hervor, noch ist das eigene Tun ein unwillkürlich spontanes Ausagieren aggressiver Rachegelüste. Vielmehr unterstellt der Imperativ der Goldenen Regel die Fähigkeit zu kognitiver Reflexion und willentlicher Impulskontrolle.
-
Der Letztbezug auf das Wollen des Adressaten statt auf Gottes Gebot oder prophetische Offenbarungen (‚…Ich aber sage Euch‘) erweist die Goldene Regel als radikal innerweltliches Moralprinzip.
-
Der Imperativ beansprucht universelle Gültigkeit. Sein Anwendungsbereich ist durch keinerlei konkrete Kontextbedingungen eingegrenzt: Weder Orts-und Zeitangaben, noch Hinweise auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale der Handelnden oder besondere Umstände tauchen auf. So etwa heißt es nicht, ‚Juden sollen den Sabbat heiligen‘ oder ‚Katholiken sollen freitags kein Fleich essen‘. Vielmehr adressiert das Prinzip mit der direkten Anrede ‚du‘ jedermann und normiert sein Verhalten gegenüber allen.
-
Der Imperativ unterstellt Gleichheit unter den Menschen. Die allgemein gültige Formel sinnt jedem einzelnen an, aus den eigenen Aversionen auf die aller anderen zu schließen. Dies ist nur sinnvoll, wenn angenommen werden kann, daß es einen universell geteilten Konsens darüber gibt, was von Übel ist (was alle rationalen Menschen – prima facie – zu vermeiden wünschen, cf. Gert, 1988). Ein solcher Konsens wiederum kann nur in Merkmalen fundieren, die allen Menschen – unabhängig von kultur- oder epochenspezifischen Unterschieden in Lebensformen oder Deutungsmustern – gleichermaßen zukommen. Sofern es – wie gezeigt werden soll – solche Merkmale tatsächlich gibt, ist der Goldenen Regel Egozentrik nicht anzulasten, wie dies etwa Habermas (1991) – Kant folgend – tut: Habermas sieht diese Egozentrik erst durch den kategorischen Imperativ gebrochen, demzufolge „eine Maxime nur gerecht ist, wenn alle wollen, daß sie in vergleichbaren Situationen von jedermann befolgt wird. Jeder muß wollen können, daß die Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde“ (Habermas, 1991, S. 108).
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993–1997, Band 10. Demoskopische Entdeckungen (1997). In: E. Noelle-Neumann & R. Köcher (Eds.), München: K.G.Saur.
Benhabib, S. (1987). The generalized and the concrete other: The Kohlberg-Gilligan controversy and feminist theory: In: S. Benhabib & D. Cornell (Eds.), Feminism as critique. Essays on the politics of gender in late-capitalist societies. Cambridge, UK: Polity Press.
Böhme, H. & Böhme, G. (1992). Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Browning, Ch. R. (1993). Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbeck: rororo.
Dworkin, R. (1984). Gerechtigkeit und Rechte. In: R. Dworkin (Ed.), Bürgerrechte ernstgenommen (pp. 252–302). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
GarfinkeI, H. (1967). Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ.
Gert, B. (1988). Die moralischen Regeln. Eine neue rationale Begründung der Moral. Frankfurt: Suhrkamp.
Habermas, J. (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Habermas, J. (1998). Richtigkeit vs. Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 46 (2), 179–208.
Herkner, W. (1980). Attribution – Psychologie der Kausalität. In: W. Herkner (Ed.), Attribution - Psychologie der Kausalität (pp. 11–86). Bern et al.: Hans Huber.
Hoche, H. U. (1998). Goldene Regel. In: O. Grupe & D. Mieth im Auftr. des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (Eds.), Lexikon der Ethik im Sport (Vol. 99, pp. 237–241). Schorndorf: Hofmann.
Jones, E. E. & Nisbett, R. E. (1971). The actor and the observer: Divergent perceptions of the causes of behavior. In: E.E. Jones, D.E. Kanouse, H.H. Kelley, R.E. Nisbett, S. Valins & B. Weiner (Eds.), Attribution: Perceiving the causes of behavior (pp. 79–94). Morristown, NJ: General Learning Press.
Kant, I. (1785/1979). Die Metaphysik der Sitten. Frankfurt: Suhrkamp.
Krappmann, L. (1993). Entwicklungsfördernde Aspekte in den Freundschaften von Kindern und Jugendlichen. Gruppendynamik, 24, 119–129
Marquard, O. (1981). Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren. In: Ders. (Ed.), Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien (pp. 67–90). Stuttgart: Philipp Reclam jr.
Nucci, L. E, & Lee, J. (1993). Moral und personale Autonomie. In: W. Edelstein, G. Nunner-Winkler & G. Noam (Eds.), Moral und Person (pp. 69–103). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Nucci, L. P. (2000). Kultur, Kontext und die psychologischen Quellen des Begriffs der Menschentrechte. In: W. Edelstein & G. Nunner-Winkler (Eds.), Moral im sozialen Kontext (pp. 442–479). Frankfutrt a. Main: Suhrkamp
Nunner-Winkler, G. (1996). Moralisches Wissen – moralische Motivation – moralisches Handeln. Entwicklungen in der Kindheit. In M. Honig, H. R. Leu & U. Nissen (Eds.), Kinder und Kindheit. Soziokulturelle Muster, sozialisationstheoretische Perspektiven (pp. 129–173). München: Juventa.
Nunner-Winkler, G. (1998). Zum Verständnis von Moral-Entwicklungen in der Kindheit. In: F. E. Weinert (Ed.), Entwicklung im Kindesalter (pp. 133–152). Weinheim: Beltz, Psychologische Verlags Union.
Nunner-Winkler, G. (2000a). Von Selbstzwängen zur Selbstbindung (und Nutzenkalkülen). In: M. Endreß & N. Roughley (Eds.): Anthropologie und Moral. Philosophische und moralische Perspektiven (pp. 211–243). Würzburg: Königshausen & Neumann
Nunner-Winkler, G. (2000b). Wandel in den Moralvorstellungen. Ein Generationenvergleich. In: W. Edelstein & G. Nunner-Winkler (Eds.), Moral im sozialen Kontext (pp. 299–336). Frankfurt a. Main: Suhrkamp
Nunner-Winkler, G. & Nikele, M. (2001). Moralische Differenz oder geteilte Werte? Empirische Befunde zur Gleichheits-/Differenzdebatte. In: B. Heintz (Ed.), Geschlechtersoziologie (Vol. Sonderband 41/Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, pp. 108–135). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Rawls, J. (1972). A theory of justice. London/Oxford/N.Y.: Oxford University Press.
Rosenbaum, H. (1982). Formen der Familie. Frankfurt: Suhrkamp.
Schopenhauer, A. (1840/1968). Kleinere Schriften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Singer, M. G. (1967). Golden Rule. In: P. Edwards (Ed.), The Encyclopedia of Philosophy (Vol. 3, pp. 365–367). New York/London.
Tajfel, H. (1970). Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223, 96–102.
Tajfel, H. (1981). Human groups and social categories. Studies in social psychology. Cambridge: Cambridge University Press.
Turiel, E. (1983). The development of social knowledge. Morality and convention. Cambridge: Cambridge University Press.
Weber, M. (1956). Der Beruf zur Politik. Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 167–185.
Weinert, F. E. (1998). Entwicklung im Kindesalter. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union.
Weinert, F.E. & Schneider, W (Eds.). (1998). Individual development from 3 to 12. Findings from a longitudinal study. New York: Cambridge University Press.
Quelle:
A. Bellebaurn/L. Miuth (Hrsg), Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Nunner-Winkler, G. (2010). Generalisierter oder konkreter Anderer?. In: Bellebaum, A., Hettlage, R. (eds) Glück hat viele Gesichter. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92533-2_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92533-2_8
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-17517-1
Online ISBN: 978-3-531-92533-2
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)