Zusammenfassung
Macht ist eine konstitutive Dimension des Sozialen. Macht kann man nicht isoliert, für sich allein haben. Wo sich Menschen zueinander verhalten, beziehen sie sich in ihrem Handeln auf das Handeln anderer: Wo immer soziale Beziehungen sind, ist auch die Möglichkeit von Macht mitgegeben. „Wer Macht sagt, sagt auch Gesellschaft, doch wer Gesellschaft sagt, sagt immer auch Macht“ (Sofsky/Paris 1994: 9). Auch der Dritte ist eine grundlegende Dimension von Sozialität. Anders als die Kategorie der Macht ist die des Dritten erst in jüngerer Zeit zum Gegenstand sozialtheoretischer Überlegungen geworden. Die ‚Ur‘- Szenen ganz unterschiedlicher Sozialtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts waren meist dyadisch organisiert: Selbst und Anderer, Identität und Alterität, ego und alter ego, Ich und Du, Sender und Empfänger, Herr und Knecht oder Proletariat und Bourgeoisie – das sind nur einige der dyadisch verstandenen Grundinstanzen unterschiedlicher Theorien des Sozialen. Ob die jeweilige Sozialtheorie das Ausgangsszenario des Sozialen nun im Tausch oder im Kampf, im Vertrag oder im Dialog, in der Interaktion oder in der Kommunikation sah – die zugrunde liegende Struktur war meist dyadisch angelegt. Erst im 20. Jahrhundert tauchte der Dritte als eine grundlegend neue Instanz auf: etwa in der Soziologie Simmels, im Existenzialismus von Jean-Paul Sartre, in den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und Jacques Lacan, oder in den poststrukturalistischen Ansätzen von Emmanuel Lévinas oder Michel Serres. Der Stellenwert des Dritten zeigte sich unter anderem in der Fülle neuer Merkmale und Qualitäten, die im Horizont der dualen Situation von ‚Ich‘ und ‚Du‘ nicht gedacht werden konnten. In diesem Sinne ist der Dritte kein anderer Anderer: er ist keine Wiederholung des alter ego. Ob als Zuschauer, Beobachter, Voyeur oder Zeuge; als Übersetzer, Bote oder Dolmetscher; ob als Verbündeter oder Delegierter (oder auch als Intrigant oder Verräter); ob als Richter oder Vermittler (oder auch als Sündenbock) – in all diesen unterschiedlichen Figuren des Dritten zeigt sich eine soziale Logik, in der der Dritte nicht einfach ein weiterer Anderer ist, in der auf den Dritten aber auch nicht einfach ein Vierter oder Fünfter folgen könnte.
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Abbildungen
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Kuch, H. (2010). Der Herr, der Knecht und der Dritte: bei Hegel und nach Hegel. In: Albert, G., Greshoff, R., Schützeichel, R. (eds) Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92519-6_4
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