Sucht man sich einen groben Überblick über die Rezeption der Arbeiten Pierre Bourdieus innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft zu verschaffen und die immer zahlreicher werdenden Beiträge etwas zu systematisieren, so erhält man einen Befund, der auf eine eigentümliche Verzögerung hinweist. Auch wenn eine größere Studie, welche die pädagogische Bourdieu- Rezeption als Exempel eines Theorietransfers zwischen unterschiedlichen Disziplinen zweier nationaler Wissenschaftsfelder interpretierte, noch immer aussteht, so scheint doch unstrittig, dass der Zugriff auf dessen theoretische Instrumente hierzulande noch immer recht selektiv verläuft. Nachdem der Habitusbegriff und die Typologie dreier Kapitalsorten bereits in den 1970er Jahren vereinzelt aufgegriffen wurden und in der Folge nicht nur die List der „pädagogischen Vernunft“ und die „stille Pädagogik“ in den Blick gerieten (vgl. Mollenhauer 1976; Liebau 1987; Wittpoth 1994), sondern auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit oder etwa die Hochschulsozialisation (vgl. Krais 1983; Müller-Rolli 1985; Friebertshäuser 1992; Engler 1993; Krais/Engler 2004), stieß der Begriff des Feldes innerhalb des pädagogischen Diskurses doch erst relativ spät auf größeres Interesse. Dies ist durchaus bemerkenswert: Denn obwohl der Begriff des Habitus in systematischer Hinsicht eng mit jenem des Feldes verknüpft ist und Bourdieu seit den 1980er Jahren große Energie darauf verwendet, über einzelne empirische Studien invariante Strukturmerkmale sozialer Felder auszuarbeiten (vgl. Raphael 2004: 272), wirkten diese Arbeiten in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft lange Zeit nicht in vergleichbarer Weise inspirierend. Die deutlich wahrnehmbare „Umorientierung“ und das „wachsende Interesse“ an den Eigenlogiken der unterschiedlichsten sozialen Felder (Müller 2002: 166f.) werden hier nur recht zögerlich als reizvolle Weiterentwicklung von dessen Theoriegebäude interpretiert. Freilich ist diese Diagnose für die Erziehungswissenschaft keineswegs singulär: Auch in benachbarten Disziplinen – etwa den Literaturwissenschaften, der Geschichtswissenschaft und der Soziologie – werden erst seit Mitte der 1990er Jahre die Anstrengungen intensiviert, diese auffällige „Rezeptionslücke“ (Kneer 2004: 26) zu schließen.1
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Rieger-Ladich, M. (2009). Pierre Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes: Ein Reflexionsangebot an die Erziehungswissenschaft. In: Friebertshäuser, B., Rieger-Ladich, M., Wigger, L. (eds) Reflexive Erziehungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91645-3_9
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