In den Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Auffassung weit verbreitet, daß die zentralen Begriffe, mit denen die Mitglieder einer Gesellschaft ihre eigene Epoche deuten bzw. sich ihrer eigenen geschichtlichen Identität zeitdiagnostisch zu versichern versuchen, ein geistiges Korrelat der jeweils gegebenen Sozialstruktur dieser Gesellschaft darstellen. Ob diese Korrelationsbeziehung zwischen Ideenevolution und Wandel der Sozialstruktur dabei kausaltheoretisch, funktionalistisch oder als dialektischer Vermittlungszusammenhang zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen gedacht wird, ist dabei weniger ausschlaggebend als die in diesem Zusammenhang oftmals anzutreffende Überzeugung, daß der soziale Wandel etwas Primäres, seine geistige Verarbeitung dagegen etwas Sekundäres und meist nachträglich Hinzukommendes sei. Oft wird dabei unterstellt, daß semantische Innovationen grundsätzlich nicht in der Lage seien, entsprechende epochale Veränderung einzuleiten, sondern sie allenfalls beschließen bzw. nachträglich auf den Begriff zu bringen vermögen. Entsprechend wird auch der Bedeutungswandel von zentralen Begriffen unserer historisch-politischen Semantik nicht als beliebige Variation des Ideengutes einer Epoche verstanden, sondern in Abhängigkeit von dem sozialen Wandel gesehen und zum Gegenstand entsprechender wissenssoziologischer und ideologiekritischer Untersuchungen gemacht. Strittig ist in diesem Zusammenhang dann allenfalls noch die Frage, ob der Bedeutungswandel von zentralen Begriffen unserer historischpolitischen Semantik in strikter kausaler Abhängigkeit zu diesbezüglich sinnadäquaten sozialstrukturellen Wandlungsprozessen steht oder ob er diesen gegenüber in einem gewissen Sinne auch eine steuernde bzw. regulierende Funktion zu übernehmen in der Lage ist.
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© 2009 Bohn Stafeu van Loghum
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Lichtblau, K. (2009). Sprachwandel und Gesellschaftswandel Zur historischen Semantik von Epochenbegriffen. In: Gerhard, P. (eds) Neuer Mensch und kollektive Identität in der Kommunikationsgesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91471-8_4
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-91471-8_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15686-6
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