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Die EU als bürokratischer Herrschaftsverband

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Book cover Europa Ohne Gesellschaft
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Auszug

Die EU kann in ihrer aktuellen Gestalt weder in verfassungsrechtlicher noch in institutioneller Hinsicht mit einem demokratischen Staatsverband verglichen werden. Die mittlerweile in der politikwissenschaftlichen Europaforschung gebräuchlichen Begriffe Mehrebenensystem sowie European Governance (vgl. u.a. Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2003; Wiener/Diez 2004; Wessels 2007) tragen diesem Umstand semantisch wie systematisch Rechnung, indem sie jegliche Konnotation mit der herkömmlichen Vorstellung von etatistischer, namentlich nationalstaatlich organisierter Herrschaft vermeiden. Ebenso musste sich die Forschung zur EG- bzw. EU-Verwaltung erst allmählich von den verwaltungswissenschaftlichen Prägissen des „methodologischen Nationalismus“1 der auch die traditionelle Bürokratiesoziologie prägte, befreien. Seit Max Webers prägnantem und die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig beeinflussenden Idealtypus der bürokratischen Herrschaft wurde die öffentliche Verwaltung letztlich immer als spezifische, den binnengesellschaftlichen Herrschaftsraum von Nationalstaaten strukturierende Macht- und Organisationsform, als Teil der Zentrumsbildung betrachtet (vgl. Rokkan 2000; Bartolini 2005). Dauerhaft grenzüberschreitend kooperierende und multinationale Beamtenstäbe, gar „zwischenstaatliche Verwaltungsstränge“ (Wessels 2000: 34f.) lagen jenseits des Horizonts von Max Webers Theoriebildung (vgl. Breuer 1991: 226f.). Dass die heutige EU selbst in ihrer zentralen und äußerst „bürokratisch“2 anmutenden Verwaltungsstruktur der Europäischen Kommission kaum noch Ähnlichkeiten mit jenem Idealtypus hierarchisch-ständischer Organisation von Staatsfunktionen aufweist, wie er von Max Weber im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfen wurde, ist demnach offensichtlich.

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Literatur

  1. Zum Begriff siehe: Smith 1979; Agnew/Corbridge 1995: 92; Beck/Grande 2004: 33ff., 147ff., 263ff.

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  2. Zur verbreiteten öffentlichen Kritik an der vermeintlichen Zentralisierung und „bürokratischen Ausuferung“ der EU siehe exemplarisch Starbatty 1994: 44ff.; Oldeg/Tillack 2003: bes. Kap. 3; Vaubel 2001; Von „bürokratischer Deformation“ als „negativer Begleiterscheinung technokratischer Strategien“ sprechen auch Beck/Grande 2004: 233f.

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  3. Diese Frage wird in der neueren Verwaltungswissenschaft häufig auch unter der institutionenökonomischen Problemstellung des „Prinzipal-Agenten-Verhältnisses“ behandelt. Für eine Integration dieses Paradigmas in die Verwaltungssoziologie plädiert Schuppert 2000: 248ff.; vgl. Hooghe 2001.

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  4. Puntscher Riekmann (1998) vergleicht die Brüsseler Behörde mit der historischen Institution der „kommissarischen Verwaltung“, mit deren Hilfe im monarchischen Frankreich und Preußen die absolutistische Staatsordnung befestigt wurde. Allerdings ist fraglich, ob angesichts der zwischen der Kommission und dem Ministerrat geteilten „Souveränität“ und dem Fehlen einer supranationalen Durchsetzungsbürokratie auf europäischer Ebene dieser Vergleich tragfähig ist (Wonka 2008).

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  5. Shore 2000: 138. Zu Recht bemerkt Shore (ebd.), dass „[f]or the architects and pioneers of the EU supranationalism represented much more than a legal principle and political ideal, important as these are. Supranationalism also embodied the ‘Community spirit’: a political ideal, a model of post-nationalist government and a sytyle of administration.” Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob dieses politische Ideal der Gründungsväter auch verwirklicht werden konnte.

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  6. Beispielsweise rangieren Umwelt, Bildung und Kultur oder auch Beschäftigung und Soziales eher hinter den wirtschaftspolitischen Kernregulierungsbereichen der EG, wie Handel, Binnenmarkt oder auch Energie und Verkehr (vgl. Donnelly/ Ritchie 1995).

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  7. «[L]’influence de chaque commissaire n’est pas déterminée par sa nationalité», resümieren Joana und Smith ihre umfänglichen Untersuchungen zur Soziographie und zum Professionsbild der Kommissare (Joana/ Smith 2002: 242). Siehe auch Page 1992: 69ff.; Donelly/Ritchie 1995: 34f.

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  8. Siehe dazu die bisher am gründlichsten untersuchten Amtsperioden der Kommission unter der Präsidentschaft Jacques Delors’: Ross 1994.

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  9. Zur Unterscheidung zwischen „regulativer“ und „distributiver Politik“ siehe Majone 1996: 28ff.; ders. 2005.

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  10. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß der Eu-Haushalt eine sog. „Eigenmittel-Obergrenze“ vorsieht. Für die „Finanzielle Vorausschau 2007–2013“ beläuft sich diese auf maximal 1,24% des Bruttonationaleinkommens. Es versteht sich: diese Plafondierung liegt vor allem im Interesse der sog. „Nettozahlerländer“ in der EU, wie Deutschland, Österreich oder den Niederlande. Einer expansiven Dynamik der Ausgabenpolitik kann dadurch effektiv entgegengewirkt werden (vgl. Gröning-von Thüna 2007).

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  11. Für einen ausgezeichneten Einblick in die Arbeitsweise der Kabinette siehe George Ross’ Fallstudie zur Präsidentschaft Jacques Delors’. Ross führt Delors’ politische Erfolge, insbesondere bei der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes, zu einem erheblichen Teil auf die außergewöhnliche Professionalität und Leistungsfähigkeit seines Kabinetts unter der Leitung von Pascal Lamy, dem späteren Handelskommissar in der Prodi-Kommission, zurück. Eine der wesentlichen Ressourcen der exzeptionellen Machtstellung dieses „cabinet de presidence“ sieht Ross in „Delor’s pre-eminence“, mithin in seiner besonderen Führungsqualität, die ihm zufolge charismatische Züge trug (Ross 1994: 51ff., Zitat: 71).

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  12. Stevens/ Stevens 2000: 230ff. Sogenannte „counterstaffs“, d.h. von den politischen Führern selbst rekrutierte und diesen allein verpflichtete Stabsmitarbeiter werden in der Verwaltungswissenschaft zu den wirksamsten Mitteln zur politischen Kontrolle der Bürokratie sowie als unabhängige Informationsquellen betrachtet; siehe Peters 2001: 247 ff.; „Ministeriale Kabinette” werden auch dazu gezählt (vgl. ebd.: 328f.).

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  13. Unter diesem Blickwinkel sind es besonders die Rekrutierungswege des Personals einerseits und das kollektive Selbstverständnis der höheren Kommissionsbeamtenschaft andererseits, welche die ambivalente Stellung der Kommission im Spannungsfeld von supranationalen Leitideen und nationalen Einflußnahmen auf dem Gebiet der Personalpolitik deutlich machen. In der Tat werden, um erneut C. Shore zu zitieren, „most of the major tensions and cleavages in the integration process, particularily those arising from the encounter between intergovernmental and supranational visions of Europe,... played out in the Commission’s staffing and management practices” (Shore 2000: 132).

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  14. Die fachliche Zuständigkeit der Generaldirektionen entspricht nicht derjenigen der Kommissare. Dieser Asymmetrie werden ein Großteil der Koordinationsdefizite der Kommission zugeschrieben (vgl. Spence 1997).

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  15. Zu den grundlegenden Strukturprinzipien bürokratischer Verwaltungsorganisation im Allgemeinen immer noch instruktiv: Mayntz 1985: 109ff.

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  16. Für ausführlichere soziographische Analysen der Kommissionsbeamtenschaft sei hier besonders auf die Studien von Page 1992 und Stevens/Stevens 2000 verwiesen.

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  17. Im Durchschnitt sprechen die Kommissionsbeamten zwischen 2 und 4 Fremdsprachen (vgl. Page 1992: 67; Haller 2008: 169ff.).

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  18. Ähnlich argumentiert Cris Shore: „To a large extent, what happens inside the EU’s bureaucracy and the kind of society being created there is the reality of European integration for its principal political actors” (Shore 2000: 131).

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  19. Siehe dazu Bach 1992; Wessels 2000; Joerges/Neyer 1998; zusammenfassend zum Forschungsstand: Joerges/Falke 2000; Neyer 2000; Töller 1999; dies. 2001; Blom-Hansen 2008.

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  20. Als „Komitologie“ i.w.S. wird in der Regel das Ausschusssystem der EU insgesamt bezeichnet; formal-rechtlich handelt es sich um Kommissionsausschüsse, die auf Initiative des Rates bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission eingesetzt werden. Hierbei sieht das Recht (Komitologie-Beschluss von 1987) bestimmte Modalitäten der Kontrolle vor (dazu ausführlich und mit weiteren Belegen: Falke 2000).

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  21. Für die Ausschüsse und Beamtengremien der anderen EU-Organe siehe ausführlich Wessels 2000: 207ff.

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  22. Luhmanns Analyse von „Kleinstrukturen“ und „informalen Kontaktsystemen“ im Verfahren der Gesetzgebung betont dagegen vor allem die Funktion der Komplexitätsreduktion: „Sie reduzieren die hochkomplexe Entscheidungslast durch soziale Strukturen auf ein Format, in dessen Grenzen der einzelne erkennen kann, was er sagen und was er nicht sagen kann und wie die anderen darauf reagieren werden“ (Luhmann 1975: 187). Siehe außerdem Luhmann 2000: insb. 22ff.; ferner Kieserling 1994; ders. 1999: 335ff.

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  23. „[M]embers of an epistemic community tend to pursue activities that closely reflect the community’s principle beliefs and tend to affiliate and identify themselves with groups that likewise reflect or seek to promote these beliefs” (Haas 1992: 19).

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  24. Wessels unterscheidet idealtypisch vier Phasen des EG-Politikzyklus: Vorbereitung (I), Herstellung (II), Durchführung (III) und Kontrolle der Entscheidungen (IV). “Beamte der Mitgliedsstaaten werden von den Dienststellen in’ ständigen’ oder ‘vorläufigen’ Sachverständigen-und Expertengruppen sowie in informellen Direktkontakten konsultiert“ (Wessels 2000: 197f.).

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  25. Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die detaillierten Erhebungen von Wessels 1996, ders. 2000; ferner auf Falke 2000, sowie Page 1992. Obwohl dem Phänomen der Komitologie seit den 1990er Jahren zahlreiche Studien gewidmet wurden, liegen bisher nur wenige zuverlässige quantitative Erhebungen vor. Das ist wohl auch auf die Zurückhaltung der Kommission zurückzuführen, hierzu umfassend eigene Daten bereitzustellen bzw. Berichte zu erheben und damit Einblick in die eigene semi-informelle Organisationsstruktur zu geben.

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  26. 4262 Sitzungen mit insgesamt ca. 46.546 Teilnehmern wurden allein für die von der Kommission im Haushaltsjahr 1995 finanzierte Ausschußtätigkeit ermittelt (siehe Page 1992: 107).

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  27. Zur Einbeziehung wissenschaftlichen und internationalen Sachverstands in die Verhandlungen der Ausschüsse siehe Bücker/ Schlacke 2000: 208.

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  28. Vgl. Neyer 2000.: 309. Neyer bezieht sich dabei auf empirische Daten, die im Rahmen einer Untersuchung zur Implementation von Rechtsakten der Gemeinschaft im Bereich der Lebensmittelpolitik und der technischen Normung erhoben wurden (vgl. ebd.: 258ff.; für weitere empirische Fallstudien siehe Joerges/Falke 2000).

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  29. Zu den „extrabürokratischen Instrumenten der Koordination“ siehe Puntscher-Riekmann 1998: 73ff.

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(2008). Die EU als bürokratischer Herrschaftsverband. In: Europa Ohne Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91189-2_5

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