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Auszug

In den Jahren 1934 und 1935 saß Elias, exilierter deutscher Jude, im berühmten Lesesaal des British Museum in London und beschäftigte sich mit den Entwicklungen des Mittelalters, des Humanismus, der höfischen Gesellschaften und der Aufklärung im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Sein empirisches Material waren vor allem die in lateinischer Sprache, in mittel- und althochdeutsch oder altfranzösisch abgefassten Manieren- und Erziehungsschriften.30 Es ging ihm darum, die langfristigen Transformationen der Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen zu untersuchen. Sein Blick war auf die zivilisatorischen Weiterentwicklungen von Menschen, auf die Verfeinerung ihrer Sitten und Gebräuche einerseits und die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, etwa den Staatsaufbau oder die Steuerpolitik gerichtet. Diese Veränderungen fasste er unter den Begriff des „Zivilisationsprozesses“. Auf eine moralische oder politische Bewertung kam es ihm dabei nicht an:

„Die Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen Individualstrukturen und Gesellschaftsstrukturen schärfer herauszuarbeiten, ergab sich bei den folgenden Untersuchungen gerade daraus, daß von dem Wandel beider, von dem Prozeß ihres jeweiligen Werdens und Gewordenseins, hier nicht als von etwas Strukturfernem, etwas ‚bloß Historischem’ abstrahiert wurde. Denn das Werden von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen vollzieht sich in unauflösbarem Zusammenhang beider miteinander. Man kann nie mit Bestimmtheit sagen, daß die Menschen einer Gesellschaft zivilisiert sind. Aber man kann aufgrund von systematischen Untersuchungen unter Hinweis auf nachprüfbare Belege recht wohl mit hoher Bestimmtheit von einigen Menschengruppen sagen, daß sie zivilisierter geworden sind, ohne notwendigerweise damit den Gedanken zur verbinden, daß es besser oder schlechter ist, daß es einen positiven oder negativen Wert hat, zivilisierter geworden zu sein“ (Über den Prozeß 1939/1997, I, 22; Hervorh. im Original).31

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Literatur

  1. Für die Ausgabe in den Gesammelten Schriften (Über den Prozeß 1939/1997) wurden diese von Elias ursprünglich direkt zitierten Belege erstmalig übersetzt.

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  2. Bei den hier erwähnten Belegen handelt es sich primär um literarische Quellen und um Ratgeberliteratur wie Manierenbücher, aber auch Schulbücher (Über den Prozeß 1939/1997 I, 276) oder die Abbildungen im sog. ‚Mittelalterlichen Hausbuch’ der Jahre 1475 bis 1480 (Über den Prozeß 1939/1997 I, Kap. 2, Abschnitt 11).

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  3. Diese Formulierung stammt von Helmut Kuzmics (Gespräch mit der Verfasserin Juni 2007). Vgl. seinen anregenden Aufsatz zur „Soziologie als Erzählung“ (Kuzmics 2007), in dem er neben Elias drei weitere Klassiker auf ihre Sprache und Haltung zur Welt hin untersucht: Max Weber, Erving Goffman und Theodor W. Adorno. Dort reflektiert er auch die Schwierigkeit, sich sachlich zum Zivilisationsprozess zu äußern (vgl. Kuzmics 2007, 63f.).

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  4. Eine ähnliche Perspektive findet sich auch bei Georg Simmel und bei Pierre Bourdieu. Bourdieu hat unter dem Titel „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987) als grundlegenden sozialen Mechanismus die Distinktion untersucht. Er versteht Distinktion als ein Verhalten, das Unterschiede setzt. Dies funktioniert nicht nur von den ‚oberen’ gegenüber den ‚unteren’ Schichten, sondern auch umgekehrt, wenn z.B. das Essen in teuren Restaurants mit seiner ausdifferenzierten Menü-, Besteck-und Geschirrfolge als gekünstelt und ungemütlich abgelehnt wird (vgl. Bourdieu 1987, 292f.).

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  5. Nach Horst Rumpf hat erst Elias die theoretische Tragweite der auf Verinnerlichung angelegten Postulate von Erasmus erkannt: „Die Veränderungen in der Subjektivität von Menschen werden mangels eines geeigneten theoretischen Apparats nicht in den Blick genommen — hier wirken heute die Arbeiten von Norbert Elias... bahnbrechend, insofern in ihnen der Zusammenhang deutlich wird zwischen Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und Veränderungen in den Empfindungswelten, der Art also, wie Triebe und Affekte kontrolliert und kanalisiert werden. Die Kritik an der Äußerlichkeit des religiösen Kults und die Kritik an Prügelstrafen, an liebloser Erziehung wie schließlich die Vorschläge des Erasmus für das, was wir heute Erziehung zu Höflichkeit, Erziehung zu guten Umgangsformen nennen — diese wichtigen und sehr wirksamen Stränge der publizistischen Arbeit von Erasmus hängen zusammen“ (Rumpf 1991, 24f.).

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  6. Die Debatte zwischen Duerr und Elias hat Michael Hinz detailliert aufgearbeitet (vgl. Hinz 2002). Die Kontroverse um die Menschenbilder von Mittelalter vs. Neuzeit dauert an, wie ein neuerer Aufsatz (vgl. Paul 2007) zeigt. In der Geschichts-und Literaturwissenschaft wird gelegentlich die Generalisierbarkeit der Quellen, die Elias benutzt hat, selbst für die Oberschicht in Zweifel gezogen (vgl. Schnell 2004).

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  7. In den vergangenen Jahren haben Sozialwissenschaftler wie Mary Kaldor (2007) und Herfried Münkler (2002) herausgearbeitet, dass in vielen Regionen und Gesellschaften der Welt das staatliche Gewaltmonopol durch Banden, Clans und private Armeen (sog. Warlords) außer Kraft gesetzt werde. Es wird die These vertreten, dass die Terrororganisation Al Qaida auch deshalb so erfolgreich operiert, weil sie sich als globales Netzwerk nicht an Staatsgrenzen hält und zivilisatorische Regeln etwa der UNO nicht als Verhaltensmaxime akzeptiert. — Was die Aushebelung des staatlichen Gewaltmonopols betrifft, lässt sich kritisch anmerken, dass in zahlreichen der so beschriebenen Regionen eben dieses zuvor noch gar nicht existiert hatte (Hinweis von Reinhart Blomert an die Verfasserin).

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  8. Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie der Beobachtung eine zentrale Funktion zugeschrieben und sie weit aufgefächert z.B. in die ‚Beobachtung der Beobachtung’ (vgl. Luhmann 1992). In manchen Spielarten der sog. Konstruktivistischen Didaktik fließen Systemtheorie und Zivilisationstheorie zusammen, vor allem in den Arbeiten von Kersten Reich. Dieser begreift Fremd-und Selbstzwang als „rekonstruktive Beobachtermuster“ (Reich 2005, 156–169). Um Beobachtung und Selbstregulierung geht es mit Blick auf die ‚Geschlechterinszenierung’ in der Studie von Henriette Burmann (2000).

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  9. In seiner neuen Studie über ‚Informalization’ geht Cas Wouters (2007) auf die Veränderung von überlegenheitsgefühlen und die Möglichkeit, diese ‚zur Schau zu stellen’, ein. Ein solches Verhalten sei, so Wouters, durch die Nivellierung von sozialen Hierarchien und den sozialen Aufstieg ehemals machtschwächerer Gruppen wie Frauen, Arbeiter oder Einwanderer seit den 1960er Jahren in westlichen Gesellschaften sozial tabuisiert. Vgl. hierzu auch Kap. 7.

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  10. Elias hat diese Anregung in seinen Überlegungen zu „Veränderungen europäischer Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert“ (Studien Deutsche 1989/2005, 37–67) und in weiteren Texten der 1980er Jahre aufgegriffen.

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  11. Michael Schröter als redaktioneller und editorischer Assistent hat diesen Band wie mehrere andere Bände mit Elias zusammen erstellt, durchaus gegen dessen Widerstände: „Bei meinen Planungen griff ich manche Vorhaben von Elias selbst auf. Das gilt für Gesellschaft der Individuen, den Lyrik-Band, Etablierte und Außenseiter. Auch das autobiographische Bändchen wurde von ihm befürwortet. Mozart hingegen habe ich aus einem langen Schlaf der Vergessenheit geweckt, und Humana Conditio wie die Studien über die Deutschen gehen ganz auf meine Initiative zurück“ (Schröter 1997, 293; Hervorh. im Original); diese Arbeiten wurden von der Fritz Thyssen-Stiftung über mehrere Jahre gefördert.

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  12. Jonathan Fletcher weist in seiner Untersuchung über „Violence & Civilization“ (Fletcher 1997) im Werk von Elias darauf hin, dass ‚Barbarei’ als Kontrastbegriff zu ‚Zivilisation’ problematisch sei. Im Sinne einer nicht-normativen Unterscheidung sei die Paarung Zivilisierung — Dezivilisierung stimmiger (vgl. Fletcher 1997, 180f.). — Als kritische Auseinandersetzung mit Elias versteht der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman seine „Dialektik der Ordnung“ (Bauman 1992). Für Bauman ist der Holocaust kein Zusammenbruch der Zivilisation, sondern die zugespitzte Form von Bürokratisierung und Rationalisierung und somit integraler Bestandteil von Zivilisation und Moderne.

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  13. Duerr warf Elias in einer mehrbändigen Auseinandersetzung, beginnend im Jahr 1988, unter dem Titel „Der Mythos vom Zivilisationsprozeß“ u.a. vor, den Menschen des Mittelalters, die sich durchaus auch schon schamvoll und kontrolliert verhalten hätten, nicht gerecht zu werden. Sein Blick sei oberschichtenfixiert und seine historischen Belege seien nicht angemessen oder fehlinterpretiert. Der bisher letzte Band ist 2002 erschienen (vgl. Duerr 2002).

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  14. Vgl. zu Zidane unter der Perspektive der ‚sub-und transnationalen Zugehörigkeit’ den Aufsatz von Nikola Tietze (2008) und die figurationstheoretische Analyse des Fußballgeschehens insgesamt durch Thomas Alkemeyer (2008).

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(2008). Zivilisation. In: Die Soziologie von Norbert Elias. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91171-7_4

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