Auszug
Unsere Studie beruht auf einem ethnographisch angelegten Forschungsprojekt, das von 2002 bis 2005 in benachteiligten Stadtteilen zweier deutscher Städte durchgeführt wurde. Gegenstand der Untersuchung waren die Semantiken und die sozialen Gebrauchsweisen „negativer Klassifikationen“, das heißt abwertender Zuschreibungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die sich in den beforschten Stadtteilen als Nachbarn begegnen. Das vorrangige Ziel der empirischen Forschung war es, die desintegrativen Wirkungen von solchen Klassifikationen und Klassifikationskämpfen zu ermitteln, aber auch nach den integrativen Potentialen lokaler Konflikte Ausschau zu halten.
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Literatur
Im Folgenden dürfte deutlich werden, dass es hier nicht im wörtlichen Sinn um protestantische, ja überhaupt nicht um religiöse Vorstellungen geht. Vielmehr werden Facetten eines Zuschreibungsmusters aufgezeigt, das bei türkischen Akteuren eine innerweltliche Askese mit einer starken Orientierung auf das Berufs-und Wirtschaftsleben verbunden sieht. Genau diese Verbindung hat Max Weber (1988b) als ein Spezifikum protestantischer Glaubensrichtungen zur Zeit der Entstehung des modernen Kapitalismus beschrieben. Von einer »protestantischen Ethik« ist hier also lediglich in einem übertragenen Sinn die Rede; etwa in der Weise, in der man auch von einer »Protestant Ethic analogy in Asia« (Bellah 1970) sprechen kann.
Dieses etwas erstaunliche Ergebnis steht im Einklang mit der Erkenntnis, dass gerade in Deutschland das Verhältnis der autochthonen Bevölkerung zu Migranten und diskriminierende Einstellungen nicht von der tatsächlichen, sondern von der wahrgenommenen Größe der Migrantenpopulation abhängen (Semyonov et al. 2004: 696; Semyonov/Raijman/Gorodzeisky 2006: 429).
Aus der deutschen Forschung über »ethnische Ökonomien« ist bekannt, dass gerade unter türkischen Migranten in den vergangenen Jahren eine besonders starke Zunahme der Selbständigenquote zu verzeichnen war: Im Jahr 1991 waren 23.000 Türken in Deutschland selbständig beschäftigt, im Jahr 2002 erreichten die türkischen Selbständigen die Zahl von 43.000 (Özcan 2004: 20). Gerade der Anteil der bereits in Deutschland geborenen ausländischen Selbständigen ist von 1996 bis 2002 von 5,6 Prozent kontinuierlich auf 14,6 Prozent gestiegen; bei den türkischen Vertretern dieser Gruppe liegt die Quote mit 21,2 Prozent recht weit über dem Durchschnitt (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 52). Dabei fällt in der Tat auf, dass türkische im Vergleich mit deutschen Geschäftsgründern besonders hohe wirtschaftliche Risiken einzugehen bereit sind und dass türkische Betriebe mit ihrer Konzentration auf Handel und Gastgewerbe in sehr wettbewerbs-und arbeitsintensiven Wirtschaftszweigen angesiedelt sind (Zentrum für Türkeistudien 2003: 14 ff.; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 52 f.; Institut für Mittelstandsforschung 2005: 9 und 14 f.; Schuleri-Hartje/Floeting/Reimann 2005: 25 f. und 46 ff.).
Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen in die entgegengesetzte Richtung. Eine einschlägige Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass türkische Selbständige weithin losgelöst von den Instanzen der Wirtschaftsförderung agieren. Lediglich 6,7 Prozent der türkischen Betriebsgründer in Deutschland haben Beratungsmöglichkeiten in Anspruch genommen oder von öffentlichen Fördermaßnahmen Gebrauch gemacht (Zentrum für Türkeistudien/ Türkisch-Deutsche IHK 2005: 23); auch bei der Förderung von Betriebsneugründungen durch Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik — insbesondere Überbrückungsgeld und Ich-AG — sind Migranten deutlich unterrepräsentiert (Kontos/Haferburg/Sacaliuc 2006: 10 f.). In einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik heißt es: »Anders als deutsche leihen sich ausländische Gründer das nötige Gründungskapital meist von Freunden und von der Familie, nicht von Banken und Förderinstitutionen Hartje 2005: 5; bestätigend dazu: Täuber 2003: 31; Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung 2004: 9). Gerade türkischstämige Unternehmer können im Unterschied zu ihren Kollegen aus anderen Migrantengruppen häufig auf Mittel aus dem Familienverband zurückgreifen (siehe Zentrum für Türkeistudien/Türkisch-Deutsche IHK 2005: 23; Schuleri-Hartje/Floeting/Reimann 2005: 70 und 118 f.).
Deutlich weniger radikale, aber strukturell ähnliche Vorstellungen, die auf einer Dichotomie zwischen der »reinen« Welt des Islam einer »unreinen« Außenwelt basieren, beschreibt Nikola Tietze (2001: 60 f.) auch bei türkischen Muslimen.
Auf diese Weise liest sich auch der Befund von Möller und Heitmeyer (2004: 504 ff.), dass unter türkischen Schülern gerade diejenigen, die sich auf einem hohen Ausbildungsniveau bewegen, von einem gravierenden Einbruch der Anerkennung berichten, die ihrer ethnischen Gruppe entgegengebracht wird.
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© 2008 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Sutterlüty, F., Neckel, S., Walter, I. (2008). Klassifikationen im Kampf um Abgrenzung und Zugehörigkeit. In: Neckel, S., Soeffner, HG. (eds) Mittendrin im Abseits. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91157-1_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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