Auszug
Für den vorliegenden Beitrag ist die These fundamental, dass dem sozialisatorischen Erfahrungszusammenhang von Reformschulen eine besondere biographische Relevanz beizumessen ist. Für Schüler/innen macht es aus biographieanalytischer Sicht einen Unterschied, ob sie Regel- oder aber Reformschulen besuchen — sowohl in Bezug darauf, wie sie selbst den Beitrag der Schule zu ihrem Lebensweg veranschlagen (ihrem subjektiv-intentionalen Sinnbezug), als auch hinsichtlich der durch methodisch kontrollierte und biographie- und sozialisationstheoretisch fundierte Interpretation zur bestimmenden Bedeutsamkeit der Schulerfahrungen für den biographischen Verlauf und die Entstehung der Person im lebensgeschichtlichen Kontext (d.h. die Genese der biographischen Fall- und Prozessstruktur). Ich müchte im Folgenden diese These am Beispiel der Waldorfschule ausführen. Zunächst werden aus schultheoretischer Perspektive die Spezifika von Reformschulkulturen in Kontrast zur Staats- bzw. Regelschulkultur erst idealtypisch und dann am Beispiel der Waldorfschule als Entgrenzungsbewegungen skizziert, die in jeder Einzelschule bzw. in jeder Biographie auf besondere Weise ausgeformt sind und gerade so dann biographisch bedeutsam werden. Im Anschluss daran werden die Lebensgeschichten zweier ehemaliger Waldorfschülerinnen vorgestellt, welche dem Sample meiner Dissertationsstudie entstammen (Idel 2005). Am Ende dieses Beitrags werden über die beiden dargestellten Biographien hinausgehend Thesen zu Chancen und Risiken waldorfschulischer Sozialisation abstrahiert. Insgesamt soll der Vorgabe der Herausgeber dieses Bandes Rechnung getragen werden, Schulreformprozesse bzw. den Erfahrungsraum von Reform- und Alternativschulen als eine durch besondere Antinomien, Spannungsverhältnisse, Ambivalenzen und Widersprüche geprägte Praxis zu analysieren.
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Darüber hinaus gibt es natürlich auch seriös vorgetragene schulpädagogische Positionen, die einer Entgrenzung von Schule kritisch gegenüber stehen und stattdessen für eine klare Begrenzung eintreten (etwa Diederich/Tenorth 1997).
Be-und Entgrenzungen lassen sich holzschnittartig etwa in folgender Weise dimensionieren: Institution: Anstalt vs. Lebenswelt; Sozialität: formalisierter Zweckverbund vs. informelles Kollektiv; Personinklusion: Rolle vs. Subjekt; Sachdimension: höhersymbolische Wissenslogik vs. lebensweltliche Alltagserfahrungen; Lernkultur: Vermittlung durch den Lehrer vs. Selbstaneignung durch den Schüler; Leitformel: Erziehung durch Bildung, d.h. Akzentuierung der lehrerseitigen Sachvermittlung, von der sich erzieherische Effekte im Sinne der Selbsterziehung auf Seiten der Schüler erhofft werden, wobei der Lehrer als Erzieher in den Hintergrund tritt vs. Bildung durch Erziehung, d.h. Akzentuierung der lehrerseitigen Erziehungsarbeit, die im Medium der Sache bildend wirken soll; Leitfunktion: Qualifikation/Selektion vs. Personalisation/ Integration; Professionalität: Lernhelfer vs. Arbeitsbündnis.
Um diese Relationierung abgesichert vornehmen zu können, müsste methodisch streng genommen auch in einer separaten Fallrekonstruktion die jeweilige Kultur der Einzelschule an geeignetem empirischen Material erschlossen werden, um sie dann der schülerbiographischen Rekapitulation entgegensetzen zu können. In meiner Dissertationsstudie war dies grundsätzlich gar nicht möglich, da es sich um retrospektive Interviews mit ehemaligen Waldorfschüler/innen handelte, die zum Befragungszeitpunkt, im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, zumeist schon einige Jahre aus der Schule waren. Durch die Hinzunahme der (Klassenlehrer-)Berichtszeugnisse aus den ersten acht Schuljahren konnten jedoch immerhin die biographischen Rekapitulationen der ehemaligen Schüler mit der Ebene der pädagogischen Sinnkonstrukte des Klassenlehrers, der für den Schüler insbesondere in diesen Schuljahren die Institution zu einem relevanten Teil verkörpert bzw. symbolisiert, trianguliert werden. Darüber eröffnen natürlich auch bereits die Analysen der autobiographischen Interviews die Möglichkeit, plausible Vermutungen zur Gestalt von Passungsverhältnissen anzustellen, weil sich die Interviewtexte aufgrund der in ihnen konstruierten unterschiedlichen Beobachterstandpunkte perspektivisch und gegen den Strich der Eigenverständnisse der Erzähler triangulieren lassen (für diesen methodologischen Hinweis danke ich Fritz Schütze). Die Zeugnistexte und die Intervieweröffnungen wurden objektiv-hermeneutisch, die weiteren Interviewsegmente narrationsstrukturell erschlossen.
Sicherlich muss man berücksichtigen, dass es sich hier um Tendenzen handelt, die einzelschulspezifisch nochmals eine besondere Akzentuierung oder Brechung erhalten. Trotz aller Wirkmächtigkeit der programmatischen Rahmenvorgaben muss wie bei Staatsschulen auch im Falle der Waldorfschule davon ausgegangen werden, dass sich Handlungsspielräume für die einzelschulischen Akteure auftun, die diese dann in eigener kreativer Auseinandersetzung mit dem Programm der Waldorfpädagogik und der Lehre der Anthroposophie ausgestalten, ohne diese natürlich grundsätzlich aus den Angeln heben zu können. Betrachtungen auf der Einzelschule übergeordneten Ebene — etwa „der“ Hauptschul-, „der“ Realschul-, „der“ gymnasialen Schulkultur oder auch „der“ freien Alternativschulkultur — sind also immer Tendenzaussagen, deren Unschärfen empirisch durch Einzelschulstudien zu korrigieren wären. Schulische Ent-und Begrenzungen und (reform-)schulische Antinomien konkretisieren sich immer einzelschulspezifisch.
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Idel, TS. (2008). Biographische Erfahrungen reformschulischer Entgrenzung — am Beispiel der Waldorfschule. In: Breidenstein, G., Schütze, F. (eds) Paradoxien in der Reform der Schule. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91053-6_18
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