Auszug
Während es an diskurstheoretischen Arbeiten alles andere als mangelt, sind im näheren Sinne empirische Diskursanalysen nach wie vor – und insbesondere auch in den Internationalen Beziehungen – relativ selten. Woran es damit zugleich fehlt, ist der Nachweis der Anwendbarkeit und Adäquanz diskursanalytischer Ansätze und Konzepte für die Bearbeitung empirischer Probleme für diesen Bereich. Ebenso mangelt es an methodischen Vorschlägen der Umsetzung von diskursanalytischen Konzepten, die die erzielten empirischen Ergebnisse in ihrer Entstehung nachvollziehbar machen würden. Auch wenn man nicht von einer allgemein anti-methodologischen Grundeinstellung post-positivistischer Ansätze sprechen sollte, gewinnt man bisweilen doch den Eindruck, dass methodologisch-methodische Überlegungen eher als hinderlich angesehen werden. Falls doch vorhanden, bleiben die Vorschläge, wie eine empirische Diskursanalyse konkret durchzufuhren sei, in vielen Fällen eher schwammig bzw. implizit. Oftmals klafft dann auch eine nicht unerhebliche Lücke zwischen theoretischem Anspruch und empirischen Ergebnissen, die auch ohne den theoretischen Hintergrund hätten erzielt werden können.
Der Unterschied zwischen Diskurstheorie und Diskursanalyse besteht laut Keller darin, dass Diskurstheorien auf die Entwicklung allgemeiner theoretischer „Grundlagenperspektiven auf die sprachförmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt“ (Keller 2004: 8) abzielen, während Diskursanalysen sich „auf die empirische Untersuchung von Diskursen“ (Keller 2004: 8) konzentrieren.
Siehe aber für diskursanalytische Ansätze in den Internationalen Beziehungen, die sich explizit mit der von ihnen verwendeten Methode auseinandersetzen, etwa Diez (1999); Larsen (1997); Hülsse (2003). Siehe für allgemeine sozialwissenschaftliche Einführungen in die Diskursanalyse, die auch konkrete methodische Leitlinien unterbreiten, etwa Jørgensen/ Phillips (2002); Keller (2004, 2005); Keller et al (2001, 2003); Torfing (1999); Torfing/ Howarth (2005); Chilton (2004).
Dies betonen etwa auch Flick (2005: 295); Milliken (1999: 226) und Nullmeier (2001: 285f).
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Literatur
Der Unterschied zwischen Diskurstheorie und Diskursanalyse besteht laut Keller darin, dass Diskurstheorien auf die Entwicklung allgemeiner theoretischer „Grundlagenperspektiven auf die sprachförmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt“ (Keller 2004: 8) abzielen, während Diskursanalysen sich „auf die empirische Untersuchung von Diskursen“ (Keller 2004: 8) konzentrieren.
Siehe aber für diskursanalytische Ansätze in den Internationalen Beziehungen, die sich explizit mit der von ihnen verwendeten Methode auseinandersetzen, etwa Diez (1999); Larsen (1997); Hülsse (2003). Siehe für allgemeine sozialwissenschaftliche Einführungen in die Diskursanalyse, die auch konkrete methodische Leitlinien unterbreiten, etwa Jørgensen/ Phillips (2002); Keller (2004, 2005); Keller et al (2001, 2003); Torfing (1999); Torfing/ Howarth (2005); Chilton (2004).
Eine sozialwissenschaftliche Analyse besteht eben im Produzieren von Texten und im „Produzieren von Texten über Texte“ (Soeffner 2004b: 75).
Dies betonen etwa auch Flick (2005: 295); Milliken (1999: 226) und Nullmeier (2001: 285f).
Bewusst verzichtet wird hier auf eine nähere Erläuterung des radikalen Konstruktivismus, wie er in der Biologie und vor allem in der Kognitionsforschung vertreten wird, laut dem das menschliche Gehirn grundlegend und unhintergehbar Konstruktionen der Realität produziert. Siehe hierzu nur Roth (1997); Maturana (2000); von Foerster (1993).
Die Begriffe Beobachtung und Interpretation werden hier mehr oder weniger synonym verwendet, was für den hier interessierenden Zusammenhang sicherlich ausreicht, auch wenn man den herangezogenen Autoren damit eventuell nicht voll und ganz gerecht wird.
Man denke hier nur etwa an Platons bekanntes Höhlengleichnis, in dem die Schwierigkeit der Welterkenntnis des Menschen symbolisiert wird (vgl. Platon 2004: 248ff) oder an Schopenhauers Ausspruch „Die Welt ist meine Vorstellung“ (Schopenhauer 2006b: 31).
Der Bezug auf Luhmann ist in diskursanalytischen Studien alles andere als üblich, erscheint aber deswegen sinnvoll und angebracht, weil er eine Tieferlegung von Diskursen als kommunikative Phänomene ermöglicht und sich darüber hinaus der Sinn-Begriff, samt Verhältnissen der In-und Exklusion, gut für eine empirische Untersuchung operationalisieren lässt.
Hier könnte man mit Hans Ulrich Gumbrecht durchaus von „Präsenzeffekten“ sprechen, die von bestimmten Dingen oder Phänomenen direkt auf Menschen (ein)wirken, ohne dass diese durch Sinn vermittelt wären (vgl. Gumbrecht 2004: 70ff). So kann etwa ein naher Blitzeinschlag oder auch ein Kunstwerk bei Menschen einen direkten (physischen oder psychischen) Effekt hervorrufen. Jedoch kommt Sinn auch bei solchen Effekten immer schnell ins Spiel, da etwa die durch den Blitzeinschlag verursachte Reaktion einen im nächsten Schritt dazu veranlasst, einen Zusammenhang zwischen Blitz und den lokalen Wetterbedingungen herzustellen oder — praktischer — sich einen sicheren Unterschlupf zu suchen. Präsenzeffekte sind sozusagen „von Wolken und Polstern des Sinns umgeben, umfangen und vielleicht sogar vermittelt“ (Gumbrecht 2004: 127).
Man hat es also nicht einfach nur mit einem „Bedürfnis“ nach einem sinnhaften Weltbezug zu tun, verstanden als ein Bedürfnis, „die Welt zu einer Welt für den Menschen, zu einer für den Menschen erschließbaren, von ihm bewohnbaren Welt zu machen“ (Angehrn 2003: 18).
Hans Lenk spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grundsatz der Interpretationsimprägniertheit“, der darin besteht, dass wir nicht ohne eine „logisch vorgängige Interpretation denken, erkennen, handeln, werten, (be-)urteilen usw.“ (Lenk 1993: 23) können.
Dies tut er in der Regel so lange, bis ein für ihn fraglos Gegebenes durch andere oder ihn selbst in Frage gestellt wird. Dann gilt es für ihn, das fraglich gewordene in ein neues fraglos gewordenes zu verwandeln (vgl. Schütz 1971: 154).
Siehe hierfür insbesondere auch das Kapitel 4.6.
Oder wie Dirk Baecker dies formuliert: „Beobachtung erster Ordnung ist das Treffen von Unterscheidungen zur Bezeichnung von Sachverhalten, seien es Objekte, Personen mit ihren Namen oder auch Zeithorizonte inklusive der Unterstellung, dass die Vergangenheit bekannt, die Zukunft unbekannt und die Gegenwart jetzt ist“ (Baecker 2005b: 75).
Hierunter werden biologisch prädeterminierte (Muster-)Wahrnehmungsstrukturierungen verstanden (vgl. Lenk 1993: 58f).
Günter Abel schlägt eine vereinfachte Aufteilung in eine deutende, gewohnheitsmäßige und kategorialisierende Ebene vor (vgl. Abel 2004: 30).
Im Gegensatz zu vielen Ansätzen des „linguistic turns“ ist dieses Konzept nicht alleine auf Sprache gemünzt, sondern umfasst sowohl non-verbale als auch sprachliche oder mediengesteuerte Kommunikation.
George Spencer-Brown, auf den dieses logische Formenkalkül zurückgeht, im Wortlaut: „Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen“ (Spencer-Brown 1999: xviii).
Kommunikation ist damit immer 1.) eine Selektion aus einem Möglichkeitshorizont, 2.) eine Differenz, da eine kontingent gezogene Grenze, eine Außen-von einer Innenseite trennt, 3.) eine Form, die zugleich beide Seiten umfasst.
Meistens dient Saussures Ansatz jedoch als negative Bezugsgröße, von der man sich in kritischer Absicht abgrenzt. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass Saussure selbst kein geschlossenes Werk seiner Theorie vorlegte, sondern sein „Hauptwerk“, die „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ von seinen Studenten Charles Bally und Albert Sechaye zusammengestellt wurde. Das Problem bei der Beschäftigung mit Saussure besteht folglich darin, dass man nie wirklich sicher sein kann, „ob die unter seinem Namen veröffentlichte Theorie tatsächlich die ursprünglichen Thesen Saussures auch adäquat widergibt“ (Münker/ Roesler 2000: 2; vgl. Albert 1996: 124).
Buchstaben sind als mediales Formenreservoir für sprachliche Kommunikation anzusehen, die zu Wörtern zusammengebunden und geformt werden, aber danach immer auch weiter zur Verfügung stehen.
So ist etwa laut Saussure „die Vorstellung’ schwester’ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebenfalls dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge“ (Saussure 1963: 79).
So ist etwa ein Baum ein biologisch-natürliches, meist senkrecht in die Höhe wachsendes, sich selbst reproduzierendes Objekt aus Holz, das einen Stamm, äste und Blätter in verschiedenen Formen aufweist.
Die Saussure’sche Unterscheidung von „Vorstellung“ und „Lautbild“ macht diesen Sachverhalt nochmals deutlich (vgl. Saussure 1967: 77f).
Eine ähnliche Konzeption lässt sich bei Wittgenstein finden: „Die Gegenstände sind farblos“ (Wittgenstein 1963: 14) stellt dieser betont beiläufig fest. Der Himmel ist zum Beispiel nicht an sich blau, wir bezeichnen nur das was wir da sehen, mit dem Wort blau. Ihre Bedeutung gewinnt die Farbe Blau aus ihrer Differenz zu anderen Farben: blau ist nicht rot, grün oder gelb etc. Mit der Benennung eines Dinges allein ist jedoch noch nichts getan, vielmehr muss die Bennennung verwendet werden und sich im Sprachgebrauch durchsetzen (vgl. Wittgenstein 2003: 46). Und wenn wir vergessen, „welche Farbe es ist, die diesen Namen hat, so verliert er seine Bedeutung für uns“ (Wittgenstein 2003: 51), da sie eben nicht in der Welt zu finden ist, sondern als differenzielles Konzept nur in der Sprache.
Allerdings beschränkt sich Saussure in seiner Analyse vorrangig auf grammatikalische Veränderungen und Lautverschiebungen, während etwa die Verschiebung von Wortbedeutungen unterbelichtet bleibt (vgl. Saussure 1967: 167ff).
Auf denselben Sachverhalt zielen auch explizit poststrukturalistisch-diskursanalytische Autoren, wenn sie von einem irreduziblen Bedeutungsüberschuss bzw. Surplus jeder Bedeutungseinschreibung sprechen, der als das Diskursive bzw. „field of discursivity“ (Torfing 1999: 92) bezeichnet wird: „the field of discursivity is precisely what makes possible the articulation of a multiplicity of competing discourses“ (Torfing 1999: 93).
Es handelt sich dabei klassischerweise um „face-to-face“-Interaktionen. Etwa: A: „Du hast doch die Schlüssel mitgenommen?!“ B: „Nein, ich dachte du hättest sie.“ A: „Das ist wieder mal typisch für dich!“ usw.
Schrift ermöglicht „Zeitdistanzen zwischen der Mitteilung von Informationen einerseits und dem Verstehen andererseits“ (Schützeichel 2004: 277).
So wie sich etwa Shakespeares Sonette an eine sogenannte „dark lady“ bzw. einen „fair youth“ wenden, muss man keiner von beiden sein, um den Text trotzdem lesen und — dann je eigen bzw. für sich — verstehen zu können.
Das eröffnet dem Schreibenden im Idealfall Freiräume, da er für sich den Text so schreiben kann wie er will und er beispielsweise keine unmittelbaren Konsequenzen von seinen ihm unbekannten Lesern oder in seinem Text beschriebenen Personen oder Institutionen befürchten muss. Leser kommen für einen Schriftsteller nur in dessen Vorstellung bzw. Erwartung einer möglichen Leserschaft — im Selbstkontakt — vor, das heißt, er schreibt Texte, von denen er glaubt oder erwartet, dass sie die Leser interessieren könnten oder auch ganz unter Absehung einer möglichen Leserschaft. Der Leser eines Textes ist wiederum mit dem Text selbst konfrontiert, nicht mit dem Autor. In beide Richtungen sind also Sofortreaktionen ausgeschlossen, zwischen Schreibenden und Lesenden ist der Text als Kontaktunterbrecher geschaltet.
Innerhalb der Wissenschaft oder auch im Journalismus ist der Gewaltverzicht zwischen Autoren bei widerstreitenden äußerungen quasi institutionalisiert und ein Verstoß wird normalerweise scharf sanktioniert. Insbesondere die Wissenschaft baut ja in einem beträchtlichen Maße auf die Widerlegung vorgängigen Wissens auf. Wer sich in der Wissenschaft prominent etablieren will, der muss sich kritisch von den Ansätzen anderer Wissenschaftler absetzen und dies auch öffentlich — das heißt per Publikation — kundtun (vgl. Weingart 2003: Kap. III).
So reiht sich wohl beinahe jedes wissenschaftliche, weltanschauliche oder politische Buch in eine Tradition von Vorläufern, von denen man sich zur Selbstlegitimation abgrenzt.
Außerdem sind wissenschaftliche und journalistische Texte nicht völlig voneinander geschieden, vielmehr findet zwischen diesen (und auch anderen) Sphären ein reger intertextueller Austausch statt. Journalistische Texte beziehen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse oder Ergebnisse, andererseits rekurrieren wissenschaftliche Arbeiten auf journalistische Erzeugnisse, entweder als Informationsquellen oder auch als Untersuchungsgegenstand.
Der Begriff der „black box“ ist der Kybernetik entnommen und bezeichnet dort jenen Sachverhalt, dass man bestimmte Systeme/ Einheiten/ Mechanismen nur anhand ihrer Wirkungen bzw. ihres Outputs und nicht in ihrem eigentlichen Prozessieren beobachten kann (siehe etwa Ashby 1985: 132ff). So kann man auch nicht direkt beobachten, wie jemand versteht, da man nicht in den Kopf des Verstehenden schauen kann (vgl. Kneer 1993: 535).
Auch wenn es natürlich immens wichtige politische Reden gab und gibt, die jedoch den meisten nur als Text zugänglich waren und sind. Siehe für die Wirkung und den Stellenwert einer politischen Stimme etwa die Studie von Dolar (2007: Kap. 5).
In diesem Punkt sehr ähnlich spricht Jean Baudrillard von der „Emanzipation der Zeichen“, die heute von der archaischen Verpflichtung etwas zu bezeichnen entbunden seien und damit frei würden „für ein strukturales oder kombinatorisches Spiel, in der Folge einer totalen Indifferenz und Indetermination“ (Baudrillard 1991: 18).
Natürlich könnte man jederzeit jeden Begriff und damit auch den des Hundes in seiner allgemein-konsentierten Bedeutung anzweifeln und etwa beim Anblick eines Chihuahuas sagen: „Das hat doch mit einem Hund nichts mehr zu tun und ich weigere mich, so etwas jemals wieder als Hund zu bezeichnen.“ Doch damit findet man in der Regel kein Gehör bzw. keine Folgebereitschaft außerhalb des privaten Sprachgebrauchs. Kunst zielt etwa immer wieder systematisch auf die Verfremdung, Hinterfragung oder Umdeutung von allgemein bekannten Konzepten ab — wie dies etwa im Surrealismus oder Dadaismus oder auch in Filmen von David Lynch oder David Cronenberg durchexerziert wird. Doch für die Kunst gelten eben auch eigene, ganz andere Regeln, die auch nur dort gelten und nur selten Effekte auf den alltäglichen Sprachgebrauch zeitigen. Man sagt sich dann als BetrachterIn eines Kunstwerkes „Das ist eben Kunst!“ und findet das für sich entweder ansprechend oder nicht oder bleibt ihm gegenüber ganz gleichgültig.
So wird man in fast jeder Diskussion, in der Europa irgendwie eine Rolle spielt, mit der Frage konfrontiert, von welchem Europa man denn genau spreche.
Es soll hier aber nicht behauptet werden, dass die genannten oder andere diskurstheoretische Autoren dies behaupten würden, sondern nur, dass man mit den angeführten Aussagen vor allem im Zusammenhang mit empirischen Analysen schnell zu diesen Ansichten verleitet wird.
Auch wenn sich dies in der Darlegung von empirischen Ergebnissen nicht gut formulieren lässt bzw. man wegen der Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit auch Abstriche in dieser Hinsicht machen muss. Darauf stellt wohl Derrida ab, wenn er von „Bastelei“ spricht, was bedeutet, dass man an sich für überkommen geglaubte Begriffe und sprachliche Schemata dennoch verwenden oder ausnutzen muss, da es gar nicht anders geht. Der Schlüssel liegt nur darin, dass man dies zumindest kenntlich macht.
So wie in dieser Studie das Material auf das Verhältnis Europas zur Türkei hin untersucht wird. Diese Einengung ist notwendig, da man bei einer großen Zahl von Texten eben nicht allen im Text gelegten Fährten folgen kann, doch sie stellt eben auch eine Verkürzung dar.
Höherstufig ist nicht wertend gemeint, sondern bezieht sich darauf, dass zur Erlangung des Wissens ein zusätzlich reflektierender Schritt, im Gegensatz zum normalen, alltäglichen Verstehen notwendig ist.
Doch hier ist wieder Vorsicht geboten, stellt Derridas Konzept doch ein für die Destabilisierung und Deorganisation philosophischer Texte entwickeltes Lektüre-Programm dar, das äußerst komplex und voraussetzungsreich angelegt ist und gerade keinen Wert auf eine Offenlegung seiner Vorgehensweise legt (vgl. Derrida 1986: 38; Angehrn 2003: 238, 257). Man sollte den Begriff der Dekonstruktion in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen behutsam verwenden und wesentlich beschränkter von Text-Dekonstruktion im Sinne einer analytischen Zerlegung und (Re-) Konstruktion von Texten sprechen, so wie dies etwa Keller vogeschlagen hat (vgl. Keller 2005: 263).
In der Philosophie wurden bestimmte Verfahren entwickelt, die ein kontrolliertes, wissenschaftlich-objektives Nachdenken über die Welt ermöglichen sollen. Auch die in den Sozialwissenschaften entwickelten quantitativen und qualitativen Methoden bemühen sich um einen kontrollierten Umgang bei der Wissenserzeugung.
Siehe für einen überblick über die unterschiedlichen hermeneutischen Herangehensweisen nur Kurt (2004) und Angehrn (2003).
Eine Kunst im übrigen, die nur der mit Sprachtalent und Menschenkenntnis ausgestattete Mensch vollführen könne. Insbesondere letztere sei dabei eher eine „weibliche Stärke“, wie Schleiermacher bemerkt (vgl. Schleiermacher 1977: 81, 169).
Nicht verfolgt wird jedoch das Projekt einer „konstruktivistischen Hermeneutik“, die sich durch eine Adaption der objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns in einen systemtheoretischen Rahmen auszeichnet und diese als Analysestrategie insbesondere für konversationsanalytische Studien und Einzelfall-bzw. Dokumentanalysen in Anschlag bringt. Siehe hierfür Sutter (1997c), Schneider (2004: Kap. 2).
Natürlich sind hermeneutische Verfahren aber auch auf nicht-textliche Phänomene wie Praktiken, Rituale oder ähnliches anwendbar.
Auch verbal geäußerte Kommunikation oder auch non-verbale Kommunikation ist beobachtbar, da diese jedoch flüchtig sind und nach ihrer äußerung bzw. ihrem Vollzug sofort wieder verschwinden, müssen sie zumindest verschriftlicht werden, damit sie kontrolliert interpretiert werden können. In der Wissenschaft führt (noch!?) kein Weg an Texten vorbei, der „methodische Zugang zur Welt bleibt immer auf sprachliche Texte verwiesen, obwohl die Welt im sprachlichen Text nicht aufgeht“ (Sutter/Weisenbacher 1993: 41).
Pierre Bourdieu spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von der Manifestation sozialer Sicht-und Teilungsgrenzen, denen mit Hilfe von Manifestationsmacht eine „sichtbare, öffentliche und damit autorisierte Existenz“ (Bourdieu 2001: 83, 96) verschafft wird, obwohl sie grundlegend konstruiert sind.
Wobei betont werden muss, dass es einen real existierenden Autoren bzw. Urheber eines Textes gibt. In seinem Denken und Entscheiden, das heißt als vollwertiger Mensch, ist dieser jedoch nicht zugänglich.
Auch Beobachter zweiter Ordnung können beobachtet werden wobei dann deren Beobachtung von Beobachtungen zum Gegenstand der Beobachtung wird.
Eine Form ist immer die Form einer Unterscheidung. Die Form umfasst beide Seiten der Unterscheidung und ist gleichzeitig die Stelle der Differenz selbst: „Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich. Das heißt, die identische Form oder Definition oder Unterscheidung agiert als die Grenze oder Beschreibung sowohl des Dinges als auch dessen, was es nicht ist“ (Spencer-Brown 1999: ix).
Titscher und Meyer stimmen beiden Aussagen im übrigen selbst zu (vgl. Titscher/Meyer 1998: 473ff).
Aber sie müssen nicht zu Beobachtern zweiter Ordnung werden. Die interessante Frage lautet dabei, wann und in welchen Zusammenhängen Beobachter erster Ordnung zu solchen zweiter werden.
Diese Definition ist angelehnt an den Begriffsgebrauch des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“.
Als Beispiel wären hier etwa rhetorische Fragen, also „Scheinfragen, die zum Zwecke der intensivierenden Wirkung an die Stelle einer Aussage oder Aufforderung tritt“ (Plett 2001: 80), der gespielte Zweifel des Sprechers an seiner eigenen Fähigkeit (= Aporie), der fiktive Mitteilungsaspekt (= Communicatio) in dem der Sprecher sein Publikum in die Rolle des Informanten versetzt, der dialogische Monolog (= Subiecto), der der vorwegnehmenden Widerlegung möglicher Einwände des Gegners dient (= Prokatalepse), der Ausdruck des Affektes (= Exclamatio), der Aufmerksamkeit erregen und Empörung bzw. eine heftige Gemütswallung signalisieren soll, zu nennen (vgl. Plett 2001: 80ff).
Auf den Stellenwert von Metaphern haben in der jüngeren Vergangenheit einige äußerst interessante Arbeiten nachdrücklich hingewiesen. Siehe etwa Beer/de Landtsheer (2004a, b); Chilton (1996); Hülsse (2003a, b); Mussolf (2000, 2003); auch: Walter (2004: 277f).
Ein Beispiel wäre die Heranziehung von Körpermetaphern, um politische Prozesse und Formen zu veranschaulichen: So ist das Staatsoberhaupt oder die Regierung der Kopf bzw. das Gehirn des Staatskörpers, die Polizei, sind etwa die ausführenden Hände etc.
Das Funktionieren einer Metapher ist jedoch keinesfalls garantiert, es gibt beispielsweise auch schlecht gewählte Metaphern, die nur schwer gelesen oder verstanden werden können oder solche, die ihre Bedeutung verlieren oder ändern: Die Metapher „dreht (sich) und versteckt (sich) fortwährend“ (Derrida 1988: 241). Derrida nennt dies auch „Irrfahrten des Semantischen“ (Derrida 1988: 232).
Was im Zusammenhang mit Metaphen analysiert werden muss, ist der genaue Bereich der herangezogen wird, um ein abstraktes Phänomen wie Europa verständlich zu machen. Etwa aus dem Bereich des Wohnens (Haus mit Zimmern, Keller etc.), des Geographisch-Räumlichen (Weg nach Europa etc.) oder des Biologisch-Organischen (Mutter Europa, verstoßenes Stiefkind Türkei etc.). Von Interesse ist dabei, womit und ob die Metaphern etwas positiv einschließen und was dabei gleichzeitig ausgeschlossen wird (etwa bei Europa als christlichem Club). Vor allem muss die Analyse auch sensibel für historische Verschiebungen der äußerungsbedeutung gehalten werden.
Erinnert sei hier nur an das Credo des früheren Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein: „Berichten was ist“.
Diese Feststellung gehört inzwischen — in der ein oder anderen Abwandlung — zum Kanon derjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich näher mit den Medien beschäftigen, wie etwa die Medienwissenschaft, die Mediensoziologie oder die Kommunikationswissenschaft (vgl. Hickethier 2003: 32; Ziemann 2006: 63; Schmidt/Zurstiege 2000: 126ff). Siehe für die verschiedenen theoretischen Positionen auch Weber (2003).
Luhmann spricht hier von einem Funktionsprimaten der Teilsysteme der Gesellschaft. In Hinblick auf die Unterscheidung von schön/nicht-schön wird etwa nur im Kunstsystem über Dinge oder Objekte diskutiert, bzw. wenn man anhand dieser Unterscheidung beobachtet, muss ein Beobachter zweiter Ordnung diese Kommunikation diesem Teilsystem zurechnen (vgl. Luhmann 1998: 301ff).
Für diese Ordnungsfunktion der Massenmedien findet Luhmann das Bild, nach dem sich jeden Morgen und jeden Abend unausweichlich das Netz der Nachrichten auf die Erde niedersenkt und festlegt, „was gewesen ist und was man zu gewärtigen hat“ (Luhmann 1997: 1097). Interessant ist auch die ganz ähnlich gelagerte Aussage Derridas zur Allgegenwart der Presse: „Sie gibt sich für den Tag selbst aus, sie gibt uns den Tag selbst. Sie ruft die öffentlichkeit ins Leben, läßt sie, läßt das öffentliche des öffentlichen Raumes und den Tag das Tageslicht erblicken“ (Derrida 1992: 96).
Gemeinsam ist all diesen Beispielen, dass die Angebote der Massenmedien, zwar zur Konstruktion der eigenen Realitätsvorstellungen genutzt werden können, damit ist aber noch nicht festgelegt, wie dies geschieht. Da man alles was gesagt wird jemandem zurechnet, kann man diesem jemand auch misstrauen (vgl. Esposito 2002: 256). Man kann dem Türkei-Korrespondenten einer Zeitung eine seine Berichterstattung verzerrende Voreingenommenheit unterstellen, so wie dem Kriegsberichterstatter ideologische Motive.
Und wen würde denn auch alles interessieren?
Beispielsweise wurde in einer Studie nachgewiesen, dass keine deutschsprachige Zeitung über mehr als jeden zwölften Anlass im Agenturmaterial berichtet (vgl. Rössler 2002: 177).
Auch wenn die meisten der hier dargelegten Aussagen generell auf Massenmedien zutreffen sollten, so liegt der Fokus, bedingt durch die Auswahl des empirisch zu analysierenden Materials, doch auf den Printmedien.
Die Frage nach und die Beobachtung dieser Merkmale ist es unter anderem auch, die Diskursanalysen charakterisieren und gleichsam von anderen, etwa medieninhalts-analytischen, Verfahren bzw. Forschungsstrategien, unterscheidet. Siehe hierfür Bonfadelli (2002: 56).
Jedoch muss man hier anmerken, dass auch die Massenmedien sich (zunehmend?) an ökonomischen Erfordernissen orientieren (müssen?). Als wirtschaftende Unternehmen müssen auch sie Gewinne verbuchen, um ihre Produkte weiter finanzieren zu können (vgl. Weber 1996: 143; Fairclough 1995: 42). Auch gibt es Fälle (versuchter) direkter politischer Einflussnahme, so dass das normale Beobachtungsverhältnis der Massenmedien zur Gesellschaft ausgehebelt wird. Wenn die Massenmedien zu einer bestimmten Zeit die Gesellschaft ausschließlich anhand des ökonomischen (Zahlung/Nicht-Zahlung) oder politischen (Machtüberlegenheit/ Machtunterlegenheit) Codes beobachten, kann man nicht mehr von einem funktional differenzierten Subsystem der Massenmedien sprechen.
Damit hat etwa das Fernsehen ganz andere Probleme als Zeitungen, da es oftmals zu bestimmten Vorkommnissen nicht genügend oder gar keine Bilder gibt. Wenn etwa über aktuelle Entwicklungen im Weißen Haus berichtet wird, sieht man im Fernsehen oftmals saisonal gefärbte Außenansichten des Weißen Hauses oder einen Mann, der den Rasen vor dem Selben mäht. Mit solchen „Füllaufnahmen“ werden oftmals Text und Bild synchronisiert.
Insbesondere Studien im Umfeld der (britischen) Cultural Studies wenden sich gegen die Vorstellung eines rein passiven Medienrezipienten und betonen stattdessen die verschiedenen Aneignungs-und Recodierungsmöglichkeiten die diesen zu Verfügung stehen. Siehe hierfür etwa Hall (2004) oder Fiske (2000).
Es wäre auch viel zu zeitaufwändig die Selektivität der Massenmedien ständig auf ihre andere, nicht-aktualisierte Seite hin zu hinterfragen. Allerdings lässt sich konstatieren, dass sich dafür teilweise eigene Instanzen herausgebildet haben, die als Gegenöffentlichkeit genau diese Selektivität kritisch zu hinterfragen versuchen. Allerdings hat man es auch dabei wieder mit einer selektiv-kontingenten Beobachtung zu tun, die ihrerseits nicht irgendwie besser oder wahrer als die der so in Frage gestellten Massenmedien wäre.
Um an dieser Stelle Missverständnissen vorzubeugen, muss jedoch auch betont werden, dass die Massenmedien in ihren normalen Operationen, das heißt im Modus der Beobachtung erster Ordnung, Wirklichkeit nicht bewusst konstruieren. Sie verfolgen keinen Plan, nach dem sie ihre Beschreibungen der Welt anfertigen. Doch auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung, werden Journalisten sehr wohl zu politisch kommunizierenden Beobachtern, die versuchen, ihre Deutungsvorgabe durchzusetzen. Zieht man jedoch das mannigfaltige Geflecht an sich überlagernden Texten in Betracht, wird deutlich, dass sich solche gezielten Konstruktionen einzeln nur schwer durchsetzen lassen.
Dekonstruktion wird dabei immer als Doppelbewegung von Destruktion und Konstruktion verstanden: Eine bestimmte Vorstellung oder Sinneinschreibung wird zerstört (destruiert) und dabei gleichzeitig eine neue hervorgebracht (konstruiert) (vgl. Angehrn 2003: 135).
Siehe hierfür insbesondere nochmals das Kapitel 4.3.1.
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(2008). Europa als „essentially contested concept“ und die Herausforderung durch die Tiirkei (beobachten) — Theoretisch-methodologischer Entwurf einer Forschungsstrategie. In: Die Türkei — ‚Das Ding auf der Schwelle‘. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91026-0_4
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