Auszug
Bei der Anbiederungsstrategie des Alltagsmodells geht es um Nützliches, aber die Bildungsszene fühlt sich auch dem Lustigen zunehmend verpflichtet. Der alltagszeitgeistige Bildungsbegriff glaubt, die keineswegs mehr wissbegierige Jugend dort abholen zu müssen, wo sie sich befindet, und das ist nun einmal der Kino-Blockbuster der Saison. „Shakespeare in Love“ statt Shakespeare-wenigstens ahnen sie dann, wer Shakespeare ist. Der letzte Seufzer verzweifelnder Lehrer verhallt im letzten Schrei der Massenkultur. Ihm zu folgen, verschafft wenigstens noch kurzfristige Aufmerksamkeit. Diese Erfahrung führt zum Prinzip: mehr Zeitgeist in die Klassenzimmer. Was dann in einer posttraditionalen oder postmodernen Schule jeweils als „Bildung“ definiert wird, ist Zufall-und doch kein Zufall: Standards setzt die Erlebnisgesellschaft, deren oberstes Ziel es ist, durch irgendwelche „events“ zu spüren, wie man in sich Sensationen erzeugt; permanente Glücksempfindungen zu stimulieren, damit man fühlt, dass man noch lebt.146 „Unsere Sozialwelt ist durchdrungen von der Denkfigur der Erlebnisrationalität [...] Die erlebnisrationale Sichtweise deutet die ganze Welt als Selbstbefriedigungsgerät. Der Intimbereich wird derselben Logik unterworfen wie das Reisen, das Essen, das Wohnen, das Leben in seiner Gesamtheit.“147 Natürlich schließt dies auch die Bildung ein. Auch sie wird in den Sog des Eventhaften, des Sensationellen, des Erlebnisses gezogen. Hier sind wir, unterhaltet uns! „Shakespeare in Love“ ist dann nicht der Aufhänger für Weitergehendes, sondern auch schon alles. Kommt ein anderer Film, ist dieser Unterrichtsgegenstand. Grisham ist auch in Ordnung. Oder Harry Potter. Und im schlimmsten Falle tut es Rosamunde Pilcher.
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Natürlich gibt es auch in dieser Welt Grenzen: Limits der Begabung, der sozialen Lage, des Milieus, der noch in Restelementen vorhandenen Verpflichtungen. Der Jubel über eine luxuriöse Gesellschaft soll nicht Ungleichheit und Armut ignorieren, aber der konsumistische Wohlstand der Mehrheit soll auch nicht andauernd hinter den unteren 20% der Einkommensbezieher versteckt werden. Es ist nun einmal-im Mainstream-eine reiche Gesellschaft.
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Man kann auch sagen: Die Anbindung dessen, was wichtig ist, an das Wohlgefühl der Beteiligten ist ein Akt der Entdifferenzierung, der zu einfachen Gesellschaftsformationen zurückverweist. Denn in den Hochkulturen wurde in Personen und Zeichen nach jener Weisheit gesucht, die in sichtbaren Dingen Anhaltspunkte für das Unsichtbare finden und es erlauben sollte, die Zukunft vorherzusagen. Diese Methode aber hatte mit Geheimnissen, mit besonderen Gaben, mit Gottheiten zu tun. Der moderne Begriff der Wahrheit setzt Beobachter zweiter Ordnung ein: Sinnliche oder übersinnliche Wahrnehmungen werden als unzuverlässig betrachtet, so dass andere Akteure den Prozess der Wahrheitserkenntnis nachvollziehen und zwischen wahrem und unwahrem Wissen unterscheiden können. Nunmehr wird das Verfahren geändert: Wahrheit bemisst sich am Wohlgefühl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992.
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Prisching, M. (2008). Das Erlebnismodell. In: Bildungsideologien. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91019-2_5
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