Auszug
Die Vielfalt von Bildungsangeboten verschiedener Schulformen und Einzelschulen, die gegenwärtig zu beobachten ist, scheint es der Schule als gesellschaftlicher Institution schwer zu machen, ihre Integrationsfunktion und ihren Anspruch auf Gleichbehandlung zu wahren. In diesem Beitrag möchten wir erstens die Frage diskutieren, in welcher Weise die Differenzierung von Schulformen dazu beiträgt, die Selbstselektion von Schülern zu fördern, und zweitens die Wirkung der Profile, Schwerpunkte oder Ausbildungsgänge auf die Verteilung und Entmischung der Schülerschaft erörtern. Wir gehen von der Überlegung aus, dass die verschiedenen Schularten mit dem, was sie kennzeichnet und was sie unterscheidet, auf eine nur schwer durchschaubare Weise als ‘geheime Organisationen’1 wirksam werden, die sich durch spezifische, jedoch unausgesprochene Voraussetzungen auszeichnen, und damit eine Inklusion und Exklusion von Schülergruppen bewirken. In seinem 1981 veröffentlichten Aufsatz „Le mort saisit le vif“ (deutsch: „Der Tote packt den Lebenden“, 1997)2 plädiert Pierre Bourdieu dafür, die sozialen Effekte von Handlungen als zwei miteinander korrelierende Geschichtsformen zu denken: auf der einen Seite die inkorporierte Geschichte der Familie und des sozialen Status (der Habitus), auf der anderen Seite die in Gegenständen objektivierte Geschichte (das Habitat). Das Zusammentreffen dieser Geschichtsformen, von Habitus und Habitat, in sozialen Feldern ist ausschlaggebend für Wahlentscheidungen und damit für Selektionen, die von Individuen oder von Institutionen umgesetzt werden. Folgt man dieser Konzeption, dann drängen sich folgende Fragen auf: Kann die Vielfalt der Schulformen noch dazu beitragen, dass die gegenseitige Anerkennung der individuellen Lebensgeschichten ihrer Schüler3 mit dem Recht auf Gleichbehandlung verbunden bleibt oder bilden die Institutionen mehr und mehr die individuellen Hintergründe ihrer Schulbevölkerung ab?
Hierzu auch Dreeben (1985), der danach fragt, was über den Lehrplan und pädagogische Arrangements hinaus an Normen und Werten in der Schule gelernt wird.
Bourdieu folgt hier einem Motiv von Karl Marx, der 1867 im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapitals“ festhält: „Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif!“ (Marx 1962: 15). Bourdieu hat dem Gedanken, der hinter dieser Phrase steckt, eine systematische Stelle in seiner Praxistheorie eingeräumt.
Wir sprechen in diesem Aufsatz der besseren Lesbarkeit wegen nur von Schülern, gemeint sind immer Schülerinnen und Schüler.
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Falkenberg, M., Kalthoff, H. (2008). Das Feld der Bildung. In: Willems, H. (eds) Lehr(er)buch Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90987-5_15
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