Auszug
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist das Phänomen des jugendzentristischen Satanismus1, in dessen Umfeld Problemjugendliche vermutet werden, die sich an satanistischem Gedankengut orientieren. In einschlägigen Survey-Studien erfuhr dieser Problemkomplex nur wenig Behandlung2, da ein eklatanter Mangel an Wissen über die Konstitution und Funktionsweise von (Jugend-)Szenen herrscht, in denen okkulte und/oder satanistische Orientierungen bzw. Praxen eine Rolle spielen. Ohne ein solches Wissen bleibt allerdings unklar, inwiefern bestimmte Ästhetiken auch bestimmte Wertvorstellungen und v.a. Handlungspraxen implizieren, ob die Szenen hinsichtlich Überzeugungen und Handlungspraxen in sich homogen sind oder ob entscheidende Differenzen existieren, und wenn ja, wie diese sich äußern. Darüber hinaus bleibt ungewiss, wie satanistisches Gedankengut angeeignet wird, d.h. ob mit solchen Ideologien und Ästhetiken bloß kokettiert wird, ob sie umgedeutet oder orthodox ausgelegt werden.3
Prominentestes Beispiel, an dem solche Differenzierungen scharf zu Tage treten und sich prototypisch illustrieren lassen, ist der so genannte ‘Ritualmord von Witten’ (06.07.2001), im Zuge dessen einem so genannten ‘Satanistenpärchen’ im Januar 2002 vor dem Bochumer Landgericht der Prozess gemacht wurde. Dass solche Taten und das Ausschlachten solcher Taten in den einschlägigen (Boulevard-)Medien in der sog. schwarzen oder Gothic-Szene breit aufgenommen, kontrovers diskutiert und kommentiert werden, lässt sich zunächst als Indiz für das Vorhandensein einer diskursiven Kommunikationskultur lesen. Wie dies geschieht, lässt weiterhin Rückschlüsse darauf zu, in welcher Weise sich die Szene bzw. einzelne Mitglieder der Szene zu solchen Ereignissen ins Verhältnis setzen. Deutlich wird, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen und Perspektiven bestehen, die zumindest die Vielfältigkeit der Wertvorstellungen innerhalb der Szene zum Ausdruck bringen.
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Literatur
Im Unterschied zu geschlosseneren Formen des Satanismus wie Logen oder Orden (vgl. Deutscher Bundestag 1998).
Vgl. etwa Deutscher Bundestag 1998.
S. hierzu Kap. 3.1. Dass es sich darüber hinaus um eine internationale Szene handelt, sei an dieser Stelle angemerkt (vgl. etwa Muggleton 2000). Dieser Aspekt erfährt in der vorliegenden Studie jedoch keine systematische Behandlung.
Vgl. klassisch: Willis 1981. Neuere Studien zu Jugendkulturen gehen i.d.R. davon aus, dass ihr Untersuchungsgegenstand sich um einen spezifischen Musikstil gruppiert (vgl. etwa Klein 1999, Hitzler/Pfadenhauer 2001, Weinfeld 2000, Vogelgesang 1999). Die Verwobenheit von populärkultureller Musik und Inszenierungspraktiken in Jugendkulturen ist nicht zuletzt an der Spezifität der jeweiligen Tanzstile zu rekonstruieren (vgl. Richard/Krüger 1995).
Vgl. etwa Baacke 1998, Voulliéme 1995.
Vgl. Mannheim 1980, vgl. Bohnsack 1997a.
Zu einer kulturhistorischen Betrachtung dieser idealtypisch zu unterscheidenden Formen der Musik vgl. Koch 1996.
Paradigmatisch hierfür: Adorno/ Horkheimer 1985.
Dass es populäre Musik nicht erst seit dem Entstehen der so genannten Pop-oder Rockmusik gibt, zeigt Peter Wicke (2001), indem er strukturelle Analogien zwischen populären Formen der Musik über die Jahrhunderte hinweg belegt.
Paradigmatisch: Bourdieu 1982.
Vgl. Ferchhoff/ Neugebauer 1996.
Zur Aneignung von so genannter ‘Mainstream-Musik’ durch nicht szenegebundene, jedoch an Jugendkultur im Allgemeinen orientierten Jugendlichen (sog. AJOs) vgl. Schmidt/ Neumann-Braun, 2003.
Vgl. Vollbrecht 1995.
Schütz/ Luckmann (1984) formulieren: „Es ist sein Körper in lebendiger Gegenwart, der mir sein Fühlen, Wollen und Denken ‘unmittelbar’ vermittelt. Der Mitmensch verkörpert sich in meiner Gegenwart. Dieser Umstand (...) gibt uns die Berechtigung, von unmittelbaren Erfahrungen eines Mitmenschen in der Wir-Beziehung zu sprechen“ (S. 156). Vgl. auch Willems (1998, S. 43 ff.) zu den vielfältigen Funktionen, die dem Körper in sozialen Situationen zukommen.
Vgl. dazu grundlegend Goffman 1969 und 1972 sowie Giddens 1995, S. 116 ff.
Vgl. Goffman 1971 und 1974.
Vgl. Goffman 1981.
Vgl. Willems 1997.
Offizielle Kleidungscodes und konventionelle Semiotisierungen sozialstruktureller Dimensionen (etwa: Geschlecht, Alter, Schicht) erfuhren insbesondere im Zuge der Modernisierung eine zunehmende Aufweichung (vgl. etwa Sontag 1967).
Vgl. Watzlawick et al. 1969.
Hitzler (1997) bemerkt: „Aber außerdem ist unser Körper eben auch ein unwillkürliches Anzeichenfeld für andere, lange bevor wir ihn als Zeichenrepertoire verwenden“ (S. 98).
Vgl. zu verschiedenen Zeichenarten Schütz/ Luckmann 1984, S. 178 ff.
Zum Begriff der Mode vgl. Simmel 1983b. Zu seiner Bedeutung in modernen Gesellschaften, insbesondere im Zusammenhang mit jugendkulturellen Ausprägungen vgl. Richard 1998. Zur Mode als Zeichensystem vgl. Barthes 1985.
Willems (1997) formuliert: „Der Körper ist Objekt und Ressource der (Selbst-)Gestaltung und (Selbst-)Ästhetisierung. Als Ensemble ästhetischer Zeichen und Bezeichnungen ist er in Grenzen formbar und manipulierbar. Ernährung, Diät, Sport, ‚Bodybuilding’, Kosmetik, Prothesen und Schönheitschirurgie sind sozusagen technische Optionen, den Körper in eine im Sinne herrschender Werte und Normen theatrale Form zu bringen. Vermutlich ist das Bestreben, den Körper in diesem Sinne zu stilisieren, in der heutigen Gesellschaft historisch einmalig verbreitet“ (S. 44).
Eine erste umfassende Bestandsaufnahme jugendkultureller Stilelemente legte Zinnecker 1982 vor. Auch Zinnecker begreift die Emblematiken bereits als Ausdruck von Protest, Gruppenzugehörigkeit und einer „Personality Show“ (ebd. S. 269), die tendenziell „unsere Körperpräsentation nach dem Muster der Warenästhetik um[modellieren]“ (ebd.). Zur Tätowierung vgl. auch Hahn 1993.
Vgl. Hebdige 1998.
Vgl. hierzu Douglas 1986.
Vgl. Diederichsen/ Hebdige/ Marx (1983); Clarke et al. 1979.
Die Stilisierung als Minorität, ‘Outlaw’ oder ‘Underdog’ ist den 1990er-Jahren, Holert/ Terkessidis (1996) zufolge, bereits zum modischen Mainstream geworden.
Vgl. Ferchhoff 1990.
Vgl. dazu Richard (1998), die Mode in ihrer Bedeutung als ästhetisch-medialen Komplex beschreibt.
Vgl. dazu exemplarisch Vogelgesang 1994.
Hitzler/ Bucher/ Niederbacher (2001) formulieren in ihrer Untersuchung zu Jugendszenen in Deutschland folgende szenekonstitutiven Merkmale: Langfristig erworbenes Wissen/Können, identifizierende Einstellung, wertrational-stilisierender Handlungsmodus und den Lebensstil dominierendes Engagement (auf der Ebene des Szenegängers) sowie die Existenz von Treffpunkten, Events und internen Medien (auf der Ebene der Szenestrukturen).
Zahlreiche Studien, die sich mit diesem Thema befassen, beleuchten das Phänomen ‘Okkultismus’ als isolierte Handlungspraxis und neigen dazu, den Handlungszusammenhang, in dem solche Praxen auftreten, zu vernachlässigen (vgl. etwa Hansel 1996, Hunfeld/Dreger 1993, Mi nisterium für Kultur, Jugend, Familie und Frauen 1997, Mischo 1991, Müller 1989a, Schmidt 1987, Wiesendanger 1995, Zinser 1993).
Vgl. zfs. Kluge 2000, S. 58 ff.
Ritsert (1996) fasst die Kompositionsregeln der Idealtypenbildung in den Verfahren der Abstraktion, Pointierung und Idealisierung zusammen (vgl. ebd. S. 41).
Weber (1988) verdeutlicht dies am Beispiel des Christentums: „Jene die Menschen einer Epoche beherrschenden, d.h. diffus in ihnen wirksamen ‚Ideen’ selbst können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere Gedankengebilde handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja in den Köpfen einer unbestimmten und wechselnden Vielzahl von Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen nach Form und Inhalt, Klarheit und Sinn erfahren. (...). Wirft man nun die Frage auf, was (...) das Christentum des Mittelalters (...) gewesen sei, (...), so zeigt sich alsbald, dass auch hier in jedem einzelnen Fall ein von uns geschaffenes Gedankenbild verwendet wird. Es ist eine Verbindung von Glaubenssätzen, Kirchenrechts-und sittlichen Normen, Maximen der Lebensführung und zahllosen Einzelzusammenhängen, die wir zu einer ‘Idee’ verbinden: eine Synthese, zu der wir ohne die Verwendung idealtypischer Begriffe gar nicht widerspruchslos zu gelangen vermöchten“ (ebd. S. 197).
Dass ein solcher „Szenegänger’ in der Realität nicht existiert, trotzdem aber ‘Realität’ darüber beansprucht, dass er in den Szenebeschreibungen von Szenemitgliedern gewissermaßen als Identifikationsfixpunkt bzw. als zentrales Konstrukt einer abstrahierten Szenedarstellung fungiert, zeigt, wie entscheidend die ‘Existenz’ eines solchen Idealtyps auch für den Zusammenhalt einer Szene selbst ist: „Ohne diesen Personaltypus [den Szenegänger — Anm. d. Verf.] ist eine Szene schlichtweg undenkbar“ (Hitzler/ Bucher/ Niederbacher 2001, S. 214).
Vgl. auch Helsper (1992), der für seine Untersuchung der Grufti-Kultur einen ähnlichen Ausgangspunkt formuliert: „Hier soll zusammenfassend das Lebensgefühl der schwarzen Szene herausgearbeitet werden, als kultureller Habitus der Schwarzen, der es, jenseits aller Differenzierungen und Besonderungen (...) möglich macht, von einer Jugendkultur der Schwarzen und Gruftis zu sprechen“ (271).
Vgl. auch Vollbrecht 1995, S. 29 ff.
Vgl. auch Bohnsack (1997b), der von einem Spannungsverhältnis zwischen intendierten Ausdrucksstilen einerseits und habitualisierten Stilelementen andererseits spricht (ebd. S. 7 f.), wobei die entscheidenden kritischen Merkmale sich in den Bereichen ‘Tiefe vs. Oberfläche’, ‘bewusst vs. unbewusst’ bzw. ‘intendiert vs. unintendiert’ sowie ‘konjunktiver vs. kommunikativer Erfahrungsraum’ (vgl. Bohnsack 1997a, S. 194 ff.) bewegen.
Auch Bohnsack räumt im Rekurs auf Mannheim (1980) dem Stilphänomen einen besonderen Status ein: „Dort, wo habitualisierte Stile zum immanenten Sinngehalt einer Kommunikation in ein Spannungsfeld geraten und diesem Ausdruck verliehen wird, sprechen wir vom ‘intendierten Ausdruckssinn’. (...). Der intendierte Ausdruckssinn unterscheidet sich vom Dokumentsinn durch die kommunikative Absicht, vom immanenten Sinngehalt dadurch, dass die kommunikative Absicht nicht explizit oder thematisch, sondern gestalterisch, metaphorisch oder’ stilistisch’ zum Ausdruck gebracht wird“ (Bohnsack 1997a, 206). Die Interpretation intendierten Ausdruckssinns setzt die Unterstellung von Motiven voraus, im Gegensatz zu habitualisierten Stilen, die sich dokumentarisch erfassen lassen.
Zur Lebensstilforschung vgl. Hörning/ Michailow 1990, Müller 1992, Mörth/Fröhlich 1994.
Vgl. Bohnsack 1997a, S. 198, Ders. 1997b, S. 6 f.
Dies referiert auf die Unterscheidung zwischen persönlichen Stilen und kollektiven Lebensstilen. In der vorliegenden Studie geht es ausschließlich um kollektive Lebensstile, worunter Hitzler (1994) „thematisch übergreifende, (mehr oder minder) integrative, gemeinsamen Kriterien folgende Überformungen (und Überhöhungen) des Lebensvollzugs überhaupt“ (ebd. S. 79) versteht.
Im Gegensatz zur Rekonstruktion eines individuellen, persönlichen Habitus setzt die vorliegende Studie an der Bestimmung eines kollektiven Habitus an. Gefragt wird somit nach geteilten bzw. typischen Überzeugungen und Orientierungsmuster in der Gothic-Szene (vgl. auch Bohnsack 1993, S. 45 f.; 1997a, S. 205 f.).
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(2008). Einleitung. In: Die Welt der Gothics. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90980-6_1
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