Auszug
Das Motiv der aktiven Gesellschaft greift auf eine Reformperiode der 1960er Jahre zurück (vgl. Etzioni 1975, zuerst erschienen 1968), in der die Nachkriegsmodernisierung im Westen ihren Höhepunkt erreichte und zugleich an ihre Grenzen zu stoßen begann. Es war nach der Gründungsperiode am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine zweite konstituierende Phase der Soziologie (vgl. Burawoy 2005). In der aktiven Gesellschaft kamen amerikanisch-liberale und europäisch-sozialistische Motive für einen historischen Moment zusammen, in dem Gesellschaft als Gesellschaft interdependenter Individuen (Elias 1999) tatsächlich Gestalt zu gewinnen schien. Lange bevor sich kommunistaristische und libertäre Interpretation sozialen Zusammenlebens von Individuen in entgegengesetzter Richtung zu entwickeln begannen, waren tatkräftige Individuen — und ihre Familien — und Gesellschaft fast synonym. Man könnte diesen Moment auch einen romantischen nennen, insoweit zumindest die frühe Romantik einen Sinn für den Menschen im Plural und die unveräußerliche Verschlingung von Individuum und Gesellschaft hatte (Bohrer 2006). Kein Zweifel, dass das Bewusstsein dieser dialektischen Einheit von „sozialer“ Gesellschaft und „individueller“ Tätigkeit ein Stück weit verloren gegangen ist, vielleicht verloren gehen musste, um ihrem widersprüchlichen Inhalt Raum zu geben. Auf der einen Seite sprießen seitdem Vorstellungen einer liberalen Tätigkeitsgesellschaft, die zugleich mehr und weniger als die durch Erwerb geprägte Arbeitsgesellschaft ist. Sie ist mehr, weil sie die ganze Komplexität des Lebens zu umfassen sucht und weniger, wenn es um die Institutionen geht, die diesem Prozess Gestalt geben sollen. Noch in der heutigen Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen sind diese alten Spuren anzutreffen, wenn die Befürworter einen emphatischen Begriff der Tätigkeit verfolgen, aber bei der Finanzierung die Zuwendungen knapp über der Sozialhilfe zusammenschnurren. Die Gegner wiederum richten sich allzu häufig auf einer Vorstellung von Arbeit ein, deren Grundlagen im globalen Strukturwandel erodieren. Für die einen schrumpft so die aktive Gesellschaft zur Nötigung der Individuen, auch noch für das geringste Einkommen alles zu geben, während für die anderen die aktive Gesellschaft bereits durch die Emanzipation der Arbeiterklasse von den Zwängen obrigkeitsstaatlicher Vergesellschaftung gegeben war.
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© 2008 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Schwengel, H. (2008). Society matters. Die kommunikationspolitische Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat. In: Evers, A., Heinze, R.G. (eds) Sozialpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90929-5_16
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