Auszug
Juristen versichern uns, dass, verkürzt gesprochen, in Zukunft dies geschehen könnte: Ein Manager wird zu Schadensersatz und außerdem zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich zu seiner Verteidigung in einer Zivil- und sodann einer Strafsache anlässlich eines betrieblichen Störfalls nicht darauf berufen kann, die Vorgaben der ISO 9000er Normungsreihe umgesetzt zu haben. Diese Normen regeln nicht etwa, wie es oft heißt, ein System des Qualitätsmanagements, sondern nur ein System der Darlegung eines Qualitätsmanagementsystems. Kunden sollen sich anhand dieser Dokumentation respektive eines erteilten Zertifikats ein Bild von der Qualitätssicherung ihrer Lieferanten machen können. Indes: Papier ist geduldig, und viele solcher ISO-9000er-Dokumentationen handeln von Potemkinschen Dörfern der Qualitätssicherung: Katzengold. Wie kann es sein, dass eine so umstrittene Normenfamilie wie diese ein ausschlaggebendes Gewicht in unserem fiktiven Gerichtsprozess erhält?
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Literatur
Spindler in Bamberger, Roth (2003, § 831 BGB, Rn. 33). Deshalb ist der dezentralisierte Entlastungsbeweis in der Literatur auch vielfach auf Kritik gestoßen, vg. nur Schiemann in Erman (2000, § 831 BGB, Rn. 21); Helm (1966); von Caemmerer (1960, 119).
Vgl. nur BGH Neue Juristische Wochenschrift 1968, 247 (248); BGH Neue Juristische Wochenschrift 1973, 1602 (1603); BGHZ 105, 349 (352). In diesem Zusammenhang hat sich auch der BGH kritisch gegenüber dem dezentralisierten Entlastungsbeweis geäußert, die Frage indes unter Verweis darauf offengelassen, dass der Großbetrieb „jedenfalls“ wegen der Verletzung seiner Organisationspflichtigen hafte (Neue Juristische Wochenschrift 1968, 247 (248)). Vgl. ferner Kieser u.a. (2002, 395). Insoweit ist wiederum der Stand von Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen (Sprau in Palandt 2005, § 823 BGB, Rn. 169); ausführlich hierzu Jürgens (1995). Aus dogmatischer Sicht wird dabei die Haftung für deliktisches Handeln Dritter ausgehebelt durch Anknüpfung an ein Eigenverschulden bei der Unternehmensorganisation als Verkehrssicherungspflicht (Hassold 1982, 585; Krötz, Wagner 2005, Rn. 305).
Der dezentralisierte Entlastungsbeweis sei insoweit „überholt“ (so Schiemann in Erman 2000, § 831 BGB, Rn. 21), von ihm bleibe „kaum etwas übrig“ (Wagner in: Münchener Kommentar 2004, § 831 BGB, Rn. 39), im werde „die Spitze genommen“ (Kötz, Wagner 2005, Rn. 305). Zurückhaltender Spindler (2002, 692). De facto nähert sich die Rechtsprechung damit insbesondere im anglo-amerikanischen Recht leitenden Parömien wie „respondeat superior“ oder „qui facit per alium facit per se“ an.
und andere einschlägige Vorschriften, bes. §§ 30 ff und 278 BGB.
Man muss allerdings sehen, dass auch von der Normung der Darlegung erhebliche normierende Wirkungen auch für das darzulegende Managementsystem selbst ausgehen, zumal die Darlegung und ihre Übereinstimmung mit dem praktizierten System einer Organisation zertifiziert wird. Fragwürdig und gefährlich aber sind die ISO-Normen auch deshalb, weil die Anwender bei ihrer Umsetzung „kreativ“ und mit viel Phantasie vorgehen, soll heißen: sie zwar formal erfüllen — er -füllen —, inhaltlich dabei aber „bemerkenswerte Kapriolen“ schlagen. „Die mit den Normen verfolgten Intentionen wurden teilweise ins Absurde verkehrt.“ (Kieser u. a. 2002, 413) Auch diese Verkehrung ist von Derridas Figur des Supplément gemeint. Dem Auge bietet sich nun eine Kette der Supplemente — Füllungen/Erfüllungen, Ergänzungen/Ersetzungen — dar, an deren Ende eine soziale Praxis steht, die ihrerseits konstitutiven Anteil an der inhaltlichen Bestimmung ihres Anfangs hat: der §§ 831, I und 823, I BGB. Das ist generell unvermeidlich, kann aber jederzeit höchst problematisch werden. Juristen zumal müsste die implizierte Nachträglichkeit der inhaltlichen Bestimmung einer Norm Sorgen bereiten, tut es aber kaum, weil sie eben unvermeidlich ist.
Vgl. für dieses Argument Ortmann (1995a, 158 f, 253 ff), mit Blick auf technische Standards der Produktion; zu Standards und Standardisierung auch unten, den Abschnitt 3.
Zu dieser sogenannten Kommissionlösung s. Gerum (1981, 144 ff).
„Die Theorie des Privatrechts sollte mit einer Frage dort beginnen, wo andere Theorien mit einem Ergebnis enden. Die Frage heißt: Und nach der Dekonstruktion?“ So eröffnet Teubner (1998, 234) seinen Beitrag und nennt eine Seite weiter Jacques Derrida den „womöglich größten Experten der Rekonstruktion des Privatrechts“.
In der neuen Institutionenökonomie etwa wird die Unternehmung als ein Nexus von Verträgen aufgefasst — als „ein strahlenförmiges Vertragsnetz zur Beschränkung (…) nutzenmaximierenden Verhaltens“ eigensüchtiger, notfalls arglistiger, zu Drückebergerei und Trittbrettfahrerei neigender Akteure (Wieland 1997, 37 und ff). Das reicht von der dafür klassischen Arbeit von Jensen und Meckling (1976) über die Principal-Agent-und die Transaktionskostentheorie bis Oliver Hart mit seiner Theorie notwendig unvollständiger Kontrakte: „The basic idea is that firms arise in situations where people cannot write good contracts and where the allocation of power or control is therefore important“ (Hart 1995, 1) Die unvermeidliche Unvollkommenheit von Verträgen avanciert bei Hart zu dem Entstehungs-und Existenzgrund von Unternehmungen.
Vgl. zur allgemeinen Figur des Lock In Ortmann (1995a, 151 ff, 255 ff und passim).
Camus hatte wohl in erster Linie eine künstlerische Revolte gegen die Erfahrung der Vergeblichkeit im Sinn. Der schöpferische Mensch antwortet auf diese Erfahrung mit dem beharrlichen Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Doch das müssen wir alle versuchen, und zumal bei der Erschaffung unserer Institutionen. Auch Teubner und Zumbansen (2000, 194) ziehen eine „Parallele zwischen Kunst und Recht, da beide eine zweite Realität erzeugen“ — das letztere in Gestalt der unumgehbaren Fiktionen des Rechts, die ja alles andere als Täuschungen sind.
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(2008). Verträge, Standards, Private Governance Regimes Die Diff érance der Globalisierung und die Globalisierung der Diff érance. In: Organisation und Welterschließung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90921-9_11
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