Auszug
Seit den 1990er Jahren hat sich in Europa, basierend auf US-amerikanischen Vorbildern, eine dynamische Armutsforschung entwickelt, die Einkommensarmut, Sozialhilfebezug und Deprivation im Längsschnitt untersucht (Verlaufsanalysen anhand von Mikrodaten). Die dynamische Forschung zeigt, dass Armutslagen beweglicher sind als in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten lange (und vielfach noch heute) angenommen. In der älteren Armutsforschung, vor allem in der Randgruppenforschung, ist die Dynamik von Armut teilweise bereits untersucht worden, meist jedoch mit unzureichenden Daten, Methoden und deterministischen, auf Abstiegskarrieren beschränkten theoretischen Modellen. Die neuere dynamische Forschung verändert die Messung von Armut, die Analyse von Armut, Armutsbilder und Armutspolitik. Wesentliche Ergebnisse sind, dass Armut häufig nur von kurzer Dauer ist, dass die Armen grundsätzlich handlungsfähig sind (coping) und dass Armutslagen oft mit Ereignissen im Lebensverlauf verknüpft sind, wie Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Geburt eines Kindes („Verzeitlichung“ und „Individualisierung“ von Armut). Zugleich wird aber eine „soziale Entgrenzung“ von Armut festgestellt, d.h. Armut reicht als vorübergehende Erfahrung und als Abstiegsdrohung über herkömmliche Randschichten hinaus. Die dynamische Sicht basiert auf einem kontingenten Modell individueller Armutskarrieren, das ältere Vorstellungen eines Teufelskreises der Armut in sich aufnimmt, aber einordnet als einen Karrieretypus neben anderen. Kritiker der dynamischen Forschung betonen, dass Armut weiterhin ein Klassenphänomen sei. Demgegenüber wird in dem Beitrag das Konzept des Lebenslaufs als theoretischer Rahmen für Armutsanalysen vorgeschlagen.
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© 2008 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Leisering, L. (2008). Dynamik von Armut. In: Huster, EU., Boeckh, J., Mogge-Grotjahn, H. (eds) Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90906-6_6
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