Auszug
Mit der Trennung der Arbeitervon der Armenpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt der sozialstaatliche Diskurs in Deutschland: Innerhalb der Gruppe derjenigen, die nicht in der Lage sind, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wird unterschieden zwischen denen, die Erwerbsarbeit leisten oder geleistet haben, und denen, die davon aus welchen Gründen auch immer ausgeschlossen sind. Der sich herausbildende Sozialstaat stellt soziale Leistungen bereit, einmal zur Bewältigung konkreter Problemlagen, zum anderen zur Sicherstellung der Integration dieses Personenkreises in das auf der kapitalistischen Warenproduktion basierende Gesellschaftssystem. Dieser bereits in der Kaiserlichen Botschaft von 1881 explizit formulierte Gedanke wird in der sozialstaatlichen Theoriebildung bei Max Weber, dann explizit bei Eduard Heimann und Herrmann Heller als Integrationsgebot in der klassengespaltenen Gesellschaft mit dem Ziel gefasst, das Mehrheitsprinzip und das soziale Postulat der Demokratie mit dem der Kapitalakkumulation in Einklang zu bringen. Dieser Integrationsansatz ist auch in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bestimmend geblieben (Sozialstaatsgebot im Grundgesetz), er wird aber immer wieder in Frage gestellt (minimal state). Auf der anderen Seite gibt es stets neue Versuche, diesen Integrationsansatz auf die sich verändernde Bedingungen wie etwa europäisierter (Anthony Giddens) bzw. weltweiter Wirtschaftsverflechtungen (Amartya Sen) zu beziehen und damit zu aktualisieren. Dabei kommt es stets von Neuem sowohl innerhalb der auf soziale Inklusion ausgerichteten Reformgruppierungen zu Konflikten darüber, ob und inwieweit das erreichte bzw. erreichbare Ausmaß an Eingrenzung ausreicht, als auch im Lager der Gegner derartiger Reformvorstellungen, ob nicht der Grad sozialer Eingrenzung zu weitgehend und letztlich bezogen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht mehr tragbar sei.
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Huster, EU. (2008). Soziale Eingrenzung als sozialstaatliches Ziel Der sozialpolitische Diskurs. In: Huster, EU., Boeckh, J., Mogge-Grotjahn, H. (eds) Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90906-6_4
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