Auszug
In diesem Aufsatz wollen wir der Frage nachgehen, welchen Beitrag die empirische Sozialforschung zu einer kritisch orientierten Sozialgerontologie leisten kann. Als Anlass für unsere Reflexionen dient uns ein konkretes messmethodisches Problem mit weitreichenden sozialpolitischen Implikationen: die Lebenszufriedenheit der Bewohner von Einrichtungen der stationären Altenpflege. Das Eindringen ingenieurs- und betriebswirtschaftlicher Diskurse über „Qualitätsentwicklung“ und „Qualitätsmanagement“ in die „Pflegeindus-trie“ (wie dieser Sektor in englischsprachigen sozialpolitischen und gesundheitswissenschaftlichen Publikationen zunehmend genannt wird) führt dazu, dass der stationär betreute hilfsbedürftige ältere Mensch als „Kunde“ verstanden und angesprochen werden soll und seine „Kundenzufriedenheit“ als Maßstab für die Qualität der dort erbrachten Leistungen dienen soll. Im Folgenden wollen wir untersuchen, inwieweit mit solchen Konzepten und rhetorischen Figuren ein verzerrtes Bild sozialer Problemlagen gezeichnet wird. Hierzu werden wir in einem ersten Schritt anknüpfen an die von Th. Adorno im Kontext des so genannten „Positivismusstreits“ angestellten Überlegungen über die Gefahr, dass empirische Sozialforschung und deren Ergebnisse zur Verschleierung gesellsehaftspolitischer Missstände missbraucht werden. Im darauf folgenden Teil unseres Beitrags werden wir skizzieren, vor welchem sozialpolitischen Hintergrund empirische Untersuchungen zur Bewohner-zufriedenheit und Pflegequalität an Bedeutung gewinnen. Sowohl die Betrachtung dieses sozialpolitischen Kontexts als auch des gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstandes zur Befragung älterer Menschen, den wir anschließend summarisch darstellen, macht deutlich, welche empirisch-methodischen und messtheoretischen Probleme denjenigen erwarten, der Befragungen zur Zufriedenheit von Pflegeheimbewohnern durchführen möchte. Den Schwerpunkt des Beitrags bilden dann Ergebnisse aus dem Methodenteil eines eigenen Forschungsprojektes (Kelle, Niggemann 2002; 2003), bei dem sowohl standardisierte Methoden der Datenerhebung als auch Verfahren der interpretativen Sozialforschung in einem „Mixed Methods Design“ verwendet wurden, um die subjektive Zufriedenheit der Bewohner von Einrichtungen der stationären Altenpflege zu untersuchen. Anhand der qualitativen und quantitativen Teilergebnisse unserer Studie lassen sich eine Reihe von Methodenproblemen darstellen, die bei der Befragung von dauerhaft institutionalisierten älteren Menschen im allgemeinen und bei der Untersuchung von deren subjektiver Zufriedenheit im besonderen nahezu zwangsläufig entstehen. Diese Probleme, die aus spezifischen Deutungsmustern und Erwartungshaltungen resultieren, welche mit der sozialen Situation von Pflegeheimbewohnern verbunden sind, bleiben allerdings bei einer Beschränkung auf quantitative Verfahren der empirischen Sozialforschung, wie sie standardisierte Fragebögen darstellen, weitgehend unentdeckt. Es zeigt sich, dass dort, wo Befragte in Abhängigkeitsbeziehungen stehen und damit in besonderer Weise vulnerabel sind, eine unkritische und unreflektierte Verwendung quantitativer Methoden zu schwerwiegenden Methodenartefakten und damit direkt zu folgenschweren methodischen Kunstfehlern führen kann.
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Kelle, U., Niggemann, C., Metje, B. (2008). Datenerhebung in totalen Institutionen als Forschungsgegenstand einer kritischen gerontologischen Sozialforschung. In: Amann, A., Kolland, F. (eds) Das erzwungene Paradies des Alters?. Alter(n) und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90786-4_7
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