Auszug
Populär werden kann nur, was publik ist. Das Populäre geht also nicht vom ‚Volk‘ aus und lässt sich nicht von popularis ableiten.1 Populäres kann es erst geben, wenn Populationen als ganze — und zugleich die Individuen als einzelne — adressiert werden können und dann auch permanent adressiert werden, oder genauer und historisch argumentiert: Populäres jenseits tribaler, lokaler, ständischer und territorialer Grenzen gibt es erst seit und mit der Instituierung gesellschaftsweiter Öffentlichkeiten, die neue Formen der Erreichbarkeit und Adressierbarkeit der Gesellschaft (und ihrer Bevölkerung) mit sich bringen.2 Die Entstehung solcher Offentlichkeiten steht bekanntlich (auch wenn dies im Detail, in den Kausalitäten und Konsequenzen dann doch nicht unbedingt bekannt ist) in Zusammenhang mit der Ablösung stratifikatorischer durch funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Die dabei entstehende und diese Umstellungen dann begleitende und verstärkende Öffentlichkeit ist von Anfang an ein Markt — auf dem nicht nur ‚Aufklärung‘ und ‚Räsonnement‘ bezweckt und angeboten werden; dieser Öffentlichkeitsmarkt ist von ideologischen und kommerziellen Konkurrenzkämpfen gezeichnet und bezieht daraus seine Dynamik. Der Produktion von Öffentlichkeit und den medialen Produkten dieser Öffentlichkeit entsprechen Steigerungen und Transformationen von Medienkonsum und ein Funktionswandel von Lektüre. Dass man in Zeiten lebt, in denen ein „großer Theil der Menschen seine eigentliche Erziehung durch Lecture bekommt“3, wird bereits vor 1800 vielfach registriert. In demographischer Hinsicht ist dieser ‚große Theil‘ um 1800 noch immer gering, aber in den Grundzügen bildet sich bereits im 18. Jahrhundert das gesellschaftliche Funktionsspektrum der massenmedialen Öffentlichkeit heraus, die in den beiden folgenden Jahrhunderten die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und das Abstraktwerden des Sozialen begleitet und katalysatorisch verstärkt.4
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Austin, John L. (1990): How to do things with words. 2nd ed. Oxford et al.: Oxford University Press.
Baraldi, Claudio / Corsi, Giancarlo / Esposito, Elena (1997): Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Barck, Karlheinz et al. (Hrsg.) (2005): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Stuttgart, Weimar: Metzler.
Benjamin, Walter (1980): Zweierlei Volkstümlichkeit. Grundsätzliches zu einem Hörspiel. Gesammelte Schriften IV, 1/2, hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a. M: Suhrkamp: 671–673.
Blaseio, Gereon et al. (Hrsg.) (2005): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont.
Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest. München: Fink.
Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (1992): Die historische Genese einer reinen Ästhetik. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 46:11. 967–979.
Brunner, Otto (Hrsg.) (2005): Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta.
Burkart, Günter / Runkel, Gunter (Hrsg.) (2004): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
Chartier, Roger (1985): Volkskultur und Gelehrtenkultur. Überprüfung einer Zweiteilung und einer Periodisierung. In: Gumbrecht /Link-Heer (1985): 376–388.
Claessens, Dieter (1980): Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologic. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Enzensberger, Hans Magnus (1992): Einzelheiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hrsg.) (1996): Systemtheorie der Literatur. München: Fink.
Franck, Georg (2003): Mentaler Kapitalismus. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 57:1. 1–15.
Görlitz, Axel / Prätorius, Rainer (Hrsg.) (1987): Handbuch der Politikwissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Göttlich, Udo / Winter, Rainer (Hrsg.) (1999): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies. Köln: Von Halem.
Göttlich, Udo et al. (Hrsg.) (2002): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln: Von Halem.
Graevenitz, Gerhart von (1999): Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73:1. 94–115.
Gumbrecht, Hans Ulrich / Link-Heer, Ulla (Hrsg.) (1985): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur-und Sprachhistorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hecken, Thomas (Hrsg.) (1997): Der Reiz des Trivialen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Herlinghaus, Hermann (2005): Populär/ volkstümlich/ Popularkultur (Art.). In: Barck (2005): 832–884.
Hitzler, Roland (2002): Trivialhedonismus? Eine Gesellschaft auf dem Weg in die Spaßkultur. In: Göttlich (2002): 244–258.
Innis, Harold A. (1997): Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. von Karlheinz Barck. Wien, New York: Springer.
Kirchner, A. (2005): Propaganda (Art.). In: Ueding (2005): 266–290.
Knigge, Adolph Freiherr von (1977): Über den Umgang mit Menschen. Hg. v. Gert Ueding. Frankfurt a. M.: 1977.
Koselleck, Reinhart (2005): Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Brunner (2005): 141–432.
Kracauer, Siegfried (1947/1984): Von Caligari bis Hitler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Link, Jürgen (1999): Wie das Kügelchen fällt und das Auto rollt. Zum Anteil des Normalismus an der Identitätsproblematik in der Moderne. In: Willems/Hahn (1999): 164–179.
Luhmann, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1995): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lux, Harm (Hrsg.) (2003): lautloses irren — ways of worldmaking, too (Katalog zur Ausstellung im Postbahnhof am Ostbahnhof Berlin). Berlin.
Maase, Kaspar (1997): Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt a. M.: Fischer.
Makropoulos, Michael (2003): Massenkultur als Kontingenzkultur. Artifizielle Wirklichkeiten zwischen Technisierung, Ökonomisierung und Ästhetisierung. In: Lux so (2003): 153–171.
Makropoulos, Michael (2004): Aspekte massenkultureller Vergesellschaftung. In: Mittelweg 36 13:1. 65–86.
Marx, Karl (1975): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Reichelt (2005): 511–539.
Mataja, Victor (1910): Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben. Leipzig: Duncker & Humblot.
McLuhan, Herbert Marshall (1996/1951): Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Amsterdam, Göttingen: Verlag der Kunst. [The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man. New York: Vanguard-Press.]
Merten, Klaus (1977): Kommunikation. Eine Begriffs-und Prozeßanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Merten, Klaus (1987): Öffentlichkeit (Art.). In: Görlitz/Prätorius (1987): 332–337.
Pasolini, Pier Paolo (1979): Freibeuterschriften. Berlin: Wagenbach.
Postman, Neil (1992): Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt a. M.: Fischer.
Reichelt, Helmut (Hrsg.) (2005): Texte zur materialistischen Geschichtsauffassung von L. Feuerbach, K. Marx, F. Engels. Frankfurt a. M. et al.: Ullstein.
Riesman, David (1989) (Mit Nathan Glazer und Reuel Denney): The Lonely Crowd: A Study of the Changing American Character. Abridged ed. with a 1969 preface. New Haven et al.: Yale University Press.
Sahlins, Marshall (1981): Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schenda, Rudolf (1970): Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt a. M.: DTV.
Schiller, Friedrich (2002): Briefe 1 1772–1795, hg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag.
Schiller, Friedrich (2005): Über Bürgers Gedichte. In: Theoretische Schriften. Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. von Peter-André Alt et al., Bd. V. München: DTV: 970–985.
Schmidt-Bärwinkel, G. / Webel, Oskar (1904): Neue Ideen zur Hebung jeden Detailgeschäfts der Kolonialwaren und Delikatessen-Branche. Leipzig.
Schrage, Dominik (2003): Integration durch Attraktion. Konsumismus als massenkulturelles Weltverhältnis. MS 29 S. Leicht gekürzt erschienen in: Mittelweg 36 12:6. 57–86.
Sloterdijk, Peter (1995): Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik. In: Weyergraf (1995): 309–339.
Stäheli, Urs (1999): Das Populäre zwischen Cultural Studies und Systemtheorie. In: Göttlich /Winter (1999): 321–336.
Stäheli, Urs (2004): Das Populäre in der Systemtheorie. In: Burkart /Runkel (2004): 169–188.
Stäheli, Urs (2005): Das Populäre als Unterscheidung — eine theoretische Skizze. In: Blaseio (2005): 146–167.
Stanitzek, Georg (1996): Was ist Kommunikation? In: Fohrmann /Müller (1996): 21–55.
Stöber, Rudolf (2000): Deutsche Pressegeschichte. Konstanz: UVK.
Ueding, Gert (Hrsg.) (2005): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
Virilio, Paul (1980): Politik und Geschwindigkeit. Ein Essay zur Dromologie. Berlin: Merve.
Werber, Niels (1997): Die Form des Populären. In: Hecken (1997): 49–86.
Weyergraf, Bernd (Hrsg.) (1995): Hansers Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 8: 1918–1933. München: DTV.
Willems, Herbert / Hahn, Alois (Hrsg.) (1999): Identität und Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Wittmann, Reinhard (1991): Geschichte des deutschen Buchhandels. München: Beck.
Author information
Authors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2007 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Helmstetter, R. (2007). Der Geschmack der Gesellschaft. In: Das Populäre der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90750-5_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-90750-5_2
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-14975-2
Online ISBN: 978-3-531-90750-5
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)