Auszug
Essers Buch „Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von ‚Rational Choice‘“ (Esser 1991) eröffnet eine Debatte wieder, die schon im Rahmen des Methodenstreits in der deutschen Ökonomie vor etwa einhundert Jahren geführt wurde, und die — wenigstens für die Soziologie — spätestens seit Parsons’ „Structure of Social Action“ (Parsons 1937) als ausgetragen galt. Indem Esser den „Rational Choice“-Ansatz (RC) der verstehenden Soziologie von Alfred Schütz gegenüberstellt und letztere auf die Grundlagen eines rational nutzenmaximierenden Entscheidungsmodells zu überführen sucht, stellt er auch erneut die damalige Frage in den Raum: Kann ein Modell ökonomischen Handelns, das von subjektiver Nutzenmaximierung und rationaler Wahl von Zwecken und Mitteln ausgeht, als ein universelles Handlungsgesetz gelten und somit die theoretische Grundlage für die sozialwissenschaftliche Erklärung sozialer Tatbestände liefern? Auf diese Frage gab Parsons, aber vor ihm bereits auch Alfred Schütz in seinem „Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (Schütz 2004, erstmals 1932), eine verneinende Antwort.205 Gibt uns Essers Buch Anlass dazu, diese negative Antwort zu revidieren? Liefert der neuformierte RC-Ansatz gar eine der entzauberten, individualisierten Gegenwartsgesellschaft adäquate Konstruktionsmechanik, in der sich die soziale Wirklichkeit aus der Aleatorik von rationalen Entscheidungen Einzelner summiert?206
Eine neuere sorgfältige Rekonstruktion des Parsons’schen Arguments siehe in Joas (1992: 19 ff.). Zur Schützschen Position vgl. Srubar (1992), jetzt in diesem Band S. 383 ff.
Dieses Verständnis legt Becks Konzept einer „reflexiven Modernisierung“ nahe. Siehe Beck (1993).
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Literatur
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(2007). Die (neo-)utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit. In: Phänomenologie und soziologische Theorie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90734-5_17
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