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Zivilmacht Europa

Die verlorenen Chancen der Europäischen Union

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Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Auszug

Das Fragezeichen im Titel deutet auf zweierlei hin: Was ist eigentlich eine „Zivilmacht“ und — falls es gelingt, eine solche zu definieren — verdient die Europäische Union eine derartige Auszeichnung? Weder Google noch Wikipedia kennen dieses Stichwort. Auch in den vorzüglichen Studienbüchern mit Beiträgen von Reinhard Meyers taucht es nicht auf.1 Dies ist umso mehr Ansporn dafür, im Folgenden eine Annäherung an den Begriff zu versuchen, um ihn anschließ end auf die heutige Europäische Union anzuwenden. Wird eine „Zivilmacht“ durch den Verzicht auf Militär definiert wie im Falle Costa Ricas, das seit 1949 durch Verfassungsbeschluss auf eine Armee verzichtet?2 Oder genügt eine bewaffnete „immerwährende Neutralität“, wie sie die Schweiz für sich in Anspruch nimmt? Sind Deutschland und Japan Zivilmächte, weil sie in ihren Verfassungen Angriffskriege ausdrücklich verbieten — was beide Staaten allerdings nicht daran gehindert hat, nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Streitkräfte aufzustellen?3 Oder können wir auf Immanuel Kant zurückgreifen, der in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“ die Bedingungen für Entstehen und Wirkungsweise von Zivilmächten (freilich ohne diesen Begriff zu verwenden) formuliert hat: Verzicht auf stehende Heere (miles perpetuus) und Vorhandensein republikanischer Verfassungen. Das Erste begründet Kant mit der Überzeugung, dass stehende Heere von Übel seien, weil „zum Tödten oder getödtet zu werden in Sold genommnen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloß en Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Anderen (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt“4. Die zweite Bedingung wäre nach Kant erfüllt, wenn alle Staaten republikanische Verfassungen besäß en, weil „wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließ en, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließ en müssten (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaß e des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher, immer neuer Kriege] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: da hingegen in einer Verfassung, wo der Unterthan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u.d.gl, durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann“.5

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Literatur

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Hans-Georg Ehrhart Sabine Jaberg Bernhard Rinke Jörg Waldmann

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© 2007 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden

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Koppe, K. (2007). Zivilmacht Europa. In: Ehrhart, HG., Jaberg, S., Rinke, B., Waldmann, J. (eds) Die Europäische Union im 21. Jahrhundert. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90576-1_11

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