Auszug
Die Fragestellung, ob die Europäische Union einer Zivilreligion bedarf und ob sie in der Lage ist, eine derartige Zivilreligion hervorzubringen, führt in doppelter Hinsicht über den Kontext der bisherigen Beiträge hinaus. Zum ersten stehen nicht mehr die nationalstaatlichen Perspektiven im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen, sondern die Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Religion wird von den einzelnen Mitgliedsländern und Beitrittskandidaten auf das intergouvernementale- und supranationale Institutionenensemble der EU und deren Selbstverständnis übertragen. Wichtiger als diese selbstverständliche Feststellung ist jedoch zum zweiten, dass mit diesem Schritt auch die Perspektive der in den vorangegangenen Aufsätzen behandelten wichtigsten Religionen im Sinne gemeindeförmig organisierter Konfessionen oder Denominationen — ungeachtet der Möglichkeit, dass sich nicht alle diese Religionen als Konfessionen oder Denominationen verstehen ℒerlassen wird. Wenn im Weiteren von Religion bzw. Zivilreligion gesprochen wird, dann nicht im Sinne des modernen Religionsbegriffs, der seit Nikolaus Kusanus, Marsilio Ficino und Martin Luther mehr oder weniger die Glaubensinhalte einer bestimmten Religion bezeichnete und gleichzeitig den Begriff der secta durch den Begriff der religio ersetzte und damit den Begriff der Religion auf das frühneuzeitliche Phänomen der Pluralisierung gemeindeförmig organisierter Konfessionen verengte. Statt dessen liegt den folgenden Ausführungen der antike und mittelalterliche Begriff der religio zugrunde, der sich auf die angemessene Verehrung der Götter, die Praktizierung der politischen Tugenden der mores maiorum und damit auf die lebendige Religiosität im Sinne von pietas der Menschen und ihre Verpflichtung gegenüber den ordnungskonstitutiven politischen Grundprinzipien ihres Gemeinwesens bezog.
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Hildebrandt, M. (2006). Bedarf die Europäische Union einer Zivilreligion?. In: Behr, H. (eds) Politik und Religion in der Europäischen Union. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90517-4_20
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