Auszug
Die moderne Geschichte demokratischen Regierens und demokratischer Regierungssysteme sowie die sie begleitende theoretische Reflexion und Begründung ist eine Geschichte (national-)staatlich verfasster und sich national legitimierender Herrschaft. Diese Sichtweise war lange Zeit so vertraut, dass es selbst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert mit seinen globalisierten Problemlagen und zwischenstaatlichen bzw. „postnationalen“ Problemgestaltungsarenen lange Zeit dauerte, bis sich überhaupt ein breiteres Bewusstsein von demokratischen Schwierigkeiten und Defiziten grenzüberschreitender Politik entwickeln konnte. Noch länger dauerte es dann allerdings, bis sich eine Debatte etablierte, welche nicht nur kritisch vor den durch externe Faktoren bedingten demokratischen Funktionsstörungen im nationalen Kontext warnte, sondern die nun auch nach Legitimationsvoraussetzungen und -potentialen einer „postnationalen Demokratie“ zu suchen begann. Dies galt insbesondere im Zusammenhang mit dem europäischen Integrationsprozess, welchen inzwischen eine Regelungsdichte und ein Kompetenzgewinn in zentralen Bereichen ökonomischer und politischer Vergemeinschaftung auszeichnen, die als freiwilliger Teilverzicht auf Souveränität im Kooperationsfeld demokratischer Staaten zugunsten einer gemeinschaftlichen Ebene ohne Beispiel ist. Die heute vielschichtige Diskussion über die verschiedenen Herausforderungen und Dilemmata demokratischer Legitimation im politischen System der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union hat etwa seit Mitte der 1980er Jahre, verstärkt aber erst seit den 1990er Jahren, an Raum gewonnen und ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch überschaubar.
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Literatur
Die folgenden Zahlen stammen aus der Frühjahrsumfrage 2003 des Eurobarometer, vgl.: European Opinion Research Group EEIG 2003.
Zu den Begriffen „negative“ und „positive Integration“ vergleiche Scharpf 1998.
Allerdings findet sich ein ähnliches (aber komplexeres) „Komponentenmodell“ demokratischer Legitimation auch in der Politikwissenschaft unter dem Begriff „compounded representation“, vgl. Benz/ Esslinger 2000 sowie Kap. 5.4.
Auf Betreiben Frankreichs und Großbritanniens wurden in Maastricht zwei (allerdings nicht rechtsverbindliche) Erklärungen zur Stärkung des Einflusses nationaler Parlamente verabschiedet. Als eine aktuelle Fortsetzung dieser Politik wurde dem europäischen Verfassungsvertrag auch ein „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ angehängt, welches diese aber nur mäßig stärkt; vgl. Maurer/ Kietz 2003.
Conférence des Organes spécialisés dans les affaires communautaires et européennes des parlements de l’Union européenne, vgl. http://www.cosac.org (Stand 07/2006).
Ähnliches gilt zwar in einem föderalen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland auch für den Bundesrat, allerdings entsprechen weder die institutionellen noch die strukturellen Bedingungen des EU-Systems dem föderalen Modell, vgl. Kielmannsegg 1996: 52f. und Schmidt 1999.
Vgl. die Einleitung in Steffani 1971. Diese Auffassung ist geprägt durch Walter Bagehot, welcher klassisch fünf Funktionen des englischen Unterhauses unterscheidet: eine „elective function“, eine „expressive function“, eine „teaching function“, eine „informing function“ sowie eine „legislative function“, vgl. Bagehot 1867.
Selbstverständlich haben auch die vorhandenen rechtlichen und institutionellen Strukturen und Verfahren der EU eine identitätsstiftende Wirkung, allerdings — und das ist ja der Hauptkritikpunkt-vor allem auf einen kleinen Kreis mitwirkender Eliten. Eine breitere Identifikationswirkung ist darüber alleine kaum zu erwarten, selbst die Akzeptanz europäischer Politik ist mehr an effektive Ergebnisse als an die Institutionen und Verfahren selbst gebunden; vgl. Abschnitt 1.1.2 und 1.4.2. Eine besondere Rolle spielt allerdings der EuGH in dem Zusammenhang, vgl. Hitzel-Cassagnes 2000.
Vgl. demgegenüber Grande, der das demokratische Kontrollprinzip mehr als notwendig „zähmt“, wenn er vorschlägt: „Eine effektive Kontrolle europäischer Politik ist m.E. nur durch eine Umstellung des Kontrollprinzips von der individuellen Kontrolle auf die institutionelle Kontrolle und ein Optimierung der institutionellen Kontrollen im politischen System der Europäischen Union zu erreichen“ (1996: 355; Herv.. i. Orig.).
Schon seine Anfang der 1970er Jahre begründete „komplexe Demokratietheorie“ wollte vor allem diese beiden Aspekte integrieren; vgl. Scharpf 1975 [Erstveröffentlichung 1970] sowie Abschnitt 2.2.4.2.
Da aber Scharpf auch für Nationalstaaten berechtigterweise homogene Interessen oder gar ein „organisches Ganzes“ ausschließt und es auch im nationalen Zusammenhang weniger um „das Volk“ und seine Souveränität, als eben um Solidarität im Sinne von „Wir-Gefühl“ ginge, ist für die EU mit dem Verzicht auf die Bedingung eines Volkes noch nichts gewonnen. An anderer Stelle beschreibt Scharpf den Gemeinwohlbegriff als „Doppelnorm der utilitaristischen Maximierung des aggregierten Wohlstands und der Verteilungsgerechtigkeit“ (1996: 18). Er bleibt damit aber eigentümlich unverbunden mit dem pluralen Charakter von Werten hochdifferenzierter Gesellschaften.
So spricht Scharpf (1999) von „Politik unterhalb der Wahrnehmungsschwelle“ und von „konfliktmindernden Politiken“ und verlagert damit sein Augenmerk bereits weg von der zuvor (1998) recht starren Differenzierung in distributiv und nicht-distributiv.
Dieser Befund gilt allerdings vorrangig für Großbritannien, vgl. Ovey 2002.
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(2007). Das Demokratiedefizit und die Demokratiefähigkeit der Europäischen Union. In: Demokratisierung der EU. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90510-5_2
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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