Auszug
In den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten ist die Beschäftigung mit jugendlichen Migrantinnen vor allem als Problemdiskurs präsent. Dies ist kein neuer Befund, in besonderer Weise wurde er zuletzt im Rahmen der Sonderauswertung der PISA-Studie über den Bildungsstand von Schülerinnen mit Migrationshintergrund (vgl. OECD 2006) erneut zum Gegenstand publizistischer Initiativen und bildungspolitischer Stellungnahmen. Im Mittelpunkt der Debatte standen jedoch nicht diejenigen Schülerinnen, die neu eingewandert sind, sondern vielmehr die ‘Kinder der Migrantinnen’. Diese, im Generationenbezug auf die sogenannte ‘Gastarbeitermigration’ vielfach als ‘zweite’ und ‘dritte’ Generation bezeichnet, zeigen vor allem in Deutschland deutlich schlechtere Bildungsleistungen als neu eingewanderte Migrantinnen. Beide Gruppen liegen allerdings in ihren Leistungen weit abgeschlagen hinter der Gruppe der einheimischen Schülerinnen (vgl. ebd.). Im internationalen Vergleich variieren die PISA Ergebnisse der 15jährigen Schülerinnen deutlich. Es fällt jedoch auf, dass der Abstand zwischen den Schülerinnen mit bzw. ohne Migrationshintergrund in den Ländern, die in der Migrationsforschung als klassische Einwanderungsländer1 bezeichnet werden, deutlich geringer ausfällt, als dies in Deutschland der Fall ist — einem Land, das auch nach dem 1973 verhängten Anwerbestopp von Arbeitskräften und einer anhaltenden restriktiven Migrationspolitik eine kontinuierliche Einwanderung aufweist.2
Hierzu gehören etwa Kanada, die USA und Australien.
Im kollektiven Bewusstsein ist Migration in Deutschland vor allem durch drei Migrationsbewegungen präsent: (1) die sogenannte ‘Gastarbeiterwanderung’ ab Mitte der 1950er Jahre bis zu Beginn der 1970er Jahre; (2) die Fluchtmigrationen verstärkt ab Mitte der 1980er Jahren, in den 1990er Jahren vor allem aus den ehemaligen jugoslawischen Gebieten; und (3) die Einwanderung von MigrantInnen aus den ehemaligen sowjetischen Republiken, die deutsche Vorfahren haben, die sogenannten ‘Aussiedler’, seit dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes (vgl. Bade/ Oltmer 2003). Diese Migrationsbewegungen werden vielfach als Sonderfälle angesehen, die besonderen historischen Situationen geschuldet sind, etwa der spezifischen Nachkriegssituation mit Wiederaufbau und einer anhaltenden wirtschaftlichen Prosperität, dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten Osteuropas oder den krisenhaften politischen und ökonomischen Verwerfungen in einer globalisierten Welt. In dieser Perspektive wird die historische Kontinuität von Migrationsbewegungen in Deutschland weitgehend ausgeklammert oder in ihren Dimensionen negiert (vgl. Herbart 1986; Geisen 2004/2005).
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Literatur
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Geisen, T. (2007). Gesellschaft als unsicherer Ort Jugendliche Migrantinnen und Adoleszenz. In: Geisen, T., Riegel, C. (eds) Jugend, Partizipation und Migration. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90481-8_2
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