Auszug
Das Buch „Die feinen Unterschiede“ (1979) des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002), das in kürzester Zeit die soziologische Diskussion weltweit für sich einnahm, ist ein Buch über eine real existierende Klassengesellschaft, die es aber nicht einseitig mit der Verfügung oder NichtVerfügung über die Produktionsmittel — wie etwa Karl Marx — oder über die Marktlage — wie etwa Max Weber — erklärte, sondern über „die Wechselbeziehungen zweier Räume — dem der ökonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile“. (Bourdieu 1982, S. llf.) Der Lebensstil bringt einen bestimmten Geschmack zum Ausdruck, und nach diesem Geschmack vor allem kann man die groben Grenzen und die feinen Unterschiede zwischen Klassen in der modernen Gesellschaft nachzeichnen. Diese These setzte sich auch deshalb rasch in den Köpfen der Soziologen, die aus der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus etwas ändern wollten, aber auch vieler, die genau das nicht wollten, fest, weil sie mit einer Unzahl von empirischen Belegen daherkam. Auf den mehr als 900 Seiten der „feinen Unterschiede“ fehlt nichts, was man nicht schon immer gern über „die anderen“ wissen wollte, aber auch nichts, was man sich in seinem Traum über die Würde der eigenen Individualität nicht ganz so gerne eingesteht.
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Literatur
Die Lyrikerin Hilde Spiel über die Haltung eines Absolventen einer englischen Eliteschule. (1990: Welche Welt ist meine Welt?, S. 187)
Thorstein Veblen (1899): Theorie der feinen Leute, S. 50
Bei Theodor Fontane wird die Distanz von der Notwendigkeit in einem schönen Bild beschrieben. Der alte Stechlin räsoniert: „Ich bin sonst nicht für Sammler. Aber wer Wetterfahnen sammelt, das will doch was sagen, das ist nicht bloß eine gute Seele, sondern auch eine kluge Seele, denn es ist da so was drin, wie ein Fingerknips gegen die Gesellschaft.“ (Fontane 1899, S. 253)
Sándor Márai (1941): Wandlungen einer Ehe, S. 165
Das hatte schon Honoré de Balzac, der genaue Beobachter seiner Gesellschaft, in seiner „Menschlichen Komödie“ festgestellt, dass „kleine Geister“ ihre guten wie schlechten Gefühle „durch eine endlose Kette von Kleinigkeiten“ befriedigen, dies aber sich selbst nicht eingestehen wollen, sondern auf andere projizieren: „Es ist eine der widerlichsten Gewohnheiten dieser Liliputanerseelen, ihre eigene Kleinlichkeit andern unterzuschieben.“ (Balzac 1835, S. 30)
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(2006). Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede. In: Identität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90437-5_17
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