Auszug
Gegen Ende der 1990er Jahre setzte in der angelsächsischen und deutschsprachigen Sozialphilosophie eine Debatte um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit ein. Die Offensive ging von den so genannten Antiegalitaristen aus, die gegen die keynesianisch inspirierten Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und Ronald Dworkin den Begriff der Gerechtigkeit von dem der Gleichheit abtrennen wollten. Eine schlüssige philosophische Begründung, warum gesellschaftliche Verteilungsmechanismen sich an sozialer Gleichheit orientieren sollten, sei nie geliefert worden, hie\ es. Vielmehr habe schon Aristoteles festgestellt, dass Gerechtigkeit eine „Tugend (ist), durch die jeder das Seine erhält“ (Rhet. I/9, 1366b9 ff.). Dass Aristoteles Universum das einer patriarchalen Sklavenhaltergesellschaft war, in dem in der Tat die Vorstellung — abstrakter — Gleichheit, die das politische Denken seit der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägt hat, keinen Platz hatte, wurde freilich nicht benannt. Auch die egalitaristischen Antworten richteten das Augenmerk weniger auf die Konzeptionen von Gesellschaft, Staat und Ökonomie, die in antiegalitaristischen Positionen vertreten wurden, sondern unternahmen eine philosophische Reformulierung und Begründung des Gleichheitsbegriffs. Parallel dazu wurden andere Begriffe, insbesondere der der Anerkennung, zentral. Und obgleich die Debatte um Anerkennung und Umverteilung zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth nicht explizit auf die Diskussion um Egalitarismus und Antiegalitarismus Bezug nimmt, kreist sie ebenfalls um Fragen der Inklusion und Exklusion unter neoliberalen Bedingungen.
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Literatur
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Lettow, S. (2006). Grenzverschiebungen des Politischen: Zur Artikulation von Staat, Ökonomie und Gesellschaft in der sozialphilosophischen Gerechtigkeitsdebatte. In: Degener, U., Rosenzweig, B. (eds) Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90382-8_4
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