Auszug
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs bestand besonders in den angelsächsischen Ländern ein (weiterhin) ausgeprägtes Interesse an „demography“ oder „population studies“. In Deutschland wurde die Behandlung bevölkerungswissenschaftlicher Themen, wenn überhaupt, dann nur im Schatten einer Leitdisziplin geduldet. Die sich nach 1945 entwickelnde Bevölkerungssoziologie war ein Resultat und ein Ausdruck dieser Situation. Als der Soziologe Karl Martin Bolte im Jahr 1961 die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bevölkerungswissenschaft und Soziologie aufwarf und sich rein rhetorisch beim Leser erkundigte, wo sich die Soziologie für demographische Aspekte interessiere, gab er folgende Antwort:
„Sobald sich der Soziologe mit konkreten, über längere Zeit bestehenden’ sozialen Systemen’ beschäftigt, interessiert er sich u. a. für den Erneuerungsprozeß dieser Gebilde. (...) Handelt es sich dabei um ‘Gesellschaften’, so wird er fragen, welche Bedeutung einerseits die natürliche Bevölkerungsvermehrung und andererseits Ein- und Auswanderungsbewegungen haben. Seine Analyse wird sich weiterhin auf die Vorstellungen, Verhaltensweisen, Regelungen, Institutionen und Organisationen erstrecken, die mit diesem Prozeß zu tun haben. Darüber hinaus wird er sich aber vor allem mit den internen Differenzierungen der Bevölkerungsbewegung befassen. Schichtenoder berufsspezifisch differenzierte Fruchtbarkeits- und Sterbewerte, schichten- und berufsspezi-fische Ein- und Auswanderungen sind häufig eine wesentliche Ursache sozialen Wandels. In Verbindung mit schichtenspezifischen Vorstellungen bezüglich Fortpflanzung, Geburtenkontrolle, Heiratsalter und über ‘standesgemäße’ Heiratspartner beeinflussen oder bedingen sie verschiedene soziologisch bedeutsame Mobilitätsprozesse. Binnenwanderungen, die zu einer ständigen Vermischung der Bevölkerung führen, charakteristische Land-Stadtbewegungen, Ballungen der Bevölkerung oder der vorübergehende Auszug der erwerbsfähigen Altersgruppen aus bestimmten Gebieten (...) sind Ereignisse, welche Folge, Ursache oder charakteristische Begleiterscheinung bestimmter Gesellschaftsstrukturen oder ihrer Umwandlung sein können.“5
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Literatur
Bolte 1961: 260f.
Bolte zeigte in diesem Zusammenhang auch, dass René König (mit Bezug auf Emile Durkheim), die Soziologie als „soziale Morphologie“ starker fur die „Bevölkerungsfrage“ öffnen wollte. Im Zuge dieser Annäherung hätten dann „die Demographie, die Ökologie und die Soziogeographie (...) aus ihrer relativen Isolierung befreit und bewusster der Soziologie zugeordnet“ werden können (ebd., 261).
Bolte 1961: 264.
Höpflinger 1997:16.
Vgl. Mayer 1989:272.
Vgl. Mackensen 1985:68f.
Vgl. Mitgau 1928:24.
Kreckel 1987:102.
Ebd.
Vgl. Schatz 2005:130.
Vgl. zum Diskussionsstand der Theorie sozialer Schließung: Mackert 2004.
Zingg, Zipp 1979:76.
Zingg, Zipp 1979:118.
Vgl. Zingg, Zipp 1979:116f.
Vgl. Meyer 2004:22; Wilsmann 2004:67ff. mit Bezug auf Rainer Geißler bzw. Theodor Geiger.
Arendt 1955:465f. So hatte in den 1920er Jahren bereits der Soziologe Emil Lederer argumentiert.
Tawney 1931:101 (zit. nach der Übersetzung ins Deutsche in Sennett 2002:316). Nach Ralf Dahrendorf war R.H. Tawney für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft in der englischen Soziologie so prägend, wie Karl Marx es für die kontinentale Soziologie gewesen ist (vgl. R. Dahrendorf in Bernsdorf 1959:561).
Friedrich Burgdörfer (1890–1967), 1907 Assistent des Statistikers Friedrich Zahn im Königlich Bayrischen Statistischen Bureau, 1912 (!) Abitur in München, 1912–1916 Studium der Staatswissenschaften, 1916–1919 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, 1920 Stadtamtmann, 1921 Vorsteher des Städtischen Mehlamtes in München, seit Mai 1921 als Regierungsrat im Statistischen Reichsamt Berlin, seit 1925 Generalreferent für die Volkszählung 1925, seit 1929 (bis 1939) Direktor der Abteilung Bevölkerungs-, Betriebs-und Kulturstatistik, 1933–1939 Dozent an der Staatsakademie des öffentlichen Gesundheitswesens und der Deutschen Hochschule für Politik (Berlin), 1934 an der Wirtschaftshochschule (Berlin), Mitglied der „Forschungsabteilung Judenfrage“ des 1934 gegründeten „Reichsinstituts für Geschichte“, Mitherausgeber des „Archivs für Bevölkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevölkerungspolitik“ (Schriftleitung: Elisabeth Pfeil), 1937–1939 Honorar-Professur für Bevölkerungspolitik an der Universität Berlin, ab 1939 an der Universität München, von 1939–1945 Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes München, zahlreiche Publikatio-nen, darunter: „Volk ohne Jugend“ (1932) — Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers — Ein Problem der Volkswirtschaft und Sozialpolitik, der nationalen Zukunft, 21934, 31935; „Die Juden in Deutschland und in der Welt“ (1938) — Ein statistischer Beitrag zur biologischen, beruflichen und sozialen Struktur des Judentums in Deutschland, in: Forschungen zur Judenfrage 3, Hamburg, 152–198; trotz des Verlustes seiner Ämter nach 1945 wurde Friedrich Burgdörfer 1956 Ehrenmitglied der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft (vgl. vom Brocke 1998:415f).
Vgl. Klingemann 1996:220.
Vgl. Klingemann 1987b: 19.
Vgl. dazu z.B. den mit „Rasse“ verknüpften „Leistungs“-Begriff in der NS-Arbeitswissenschaft: Raehlmann 2005:141–148. Voraussetzung für den gebotenenen Schutz der „Volksgemeinschaft“ war dort die Kraft zur vollständigen Leistungshergabe und Dynamik, zu der aber nur der „nordische Mensch“ fähig sei. In einer Awl-Publikation wurde das auf die Formel gebracht: „Leistung ist Sinn des Daseins“ (ebd., 144).
Schwidetzky 1942:75f.
Vgl. Klingemann 1996:277ff.; Raphael 2001a.
Vgl. Bolte 1955, 21969:113f.
Friedrich Zahn (1869–1946), Statistiker, seit 1896 Mitarbeiter des Bayerischen Statistischen Landesamts, ab 1907 bis 1939 Leitung dieses Amtes als Nachfolger Georg v. Mayrs, 1913 Honorar-Prof. für Statistik und Sozialpolitik an der Universität München, Herausgeber des „Allgemeinen Statistischen Archivs“ seit 1914. Zahn führte in der Weimarer Republik die klassische Richtung der Bevölkerungswissenschaft (Nationalökonomie, Statistik) fort, 1931/1936 Präsident bzw. Ehrenpräsident des „Internationalen Statistischen Instituts“. Weitere detaillierte Angaben zur Biographie in vom Brocke 1998:14, 49, 67, 443.
Zahn 1935:99.
Ebd.
Vgl. Peukert 1988; Aly/Heim 1991
Arendt 1955:515ff.; siehe auch ebd., 506.
Zahlreiche Arbeiten in der Raumforschung des Nationalsozialismus sind ein Beleg fur dieses technokratische Wissenschaftsverständnis, das, urn es noch einmal zu betonen, nicht mit Positivismus, Pragmatismus etc. gleichzusetzen ist (vgl. Gutberger 21999).
Arendt 1955:514.
Ich beschreibe im Kapitel zur Soziologisierung der Raumforschung in „Volk, Raum und Sozialstruktur“, dass es solche Modelle unter Sozialwissenschaftlern ebenfalls gegeben hat (Vgl. Gutberger 21999: 177ff.). Auch unter den hier behandelten Bevölkerungswissenschaftler finden sich Anschauungen wie die folgende: „Eher der Planer nicht eine sehr lebhafte und plastische Vorstellung auch von der Gesellschaft hat, fur die er plant und baut (...) so lange wird er nicht in der Gnade wahrhaften Schöpfertums stehen.“ (vgl. Müller, Pfeil 1950:1).
Siehe den Überblick in den „Vorgeschichten“ bei Mackensen 1998:247–262.
vom Brocke 1998:104f. Bernhard vom Brocke griff hier allerdings eine Formulierung auf, die wir so wörtlich schon bei Helmut Schelsky (1955) und Hans Harmsen (1976) finden. Die Ansicht der methodischen Fortschrittlichkeit vertrat er auch an anderer Stelle: „Ich kann nur sagen, daß sie methodisch fortschrittlich war, daß die Volkstumssoziologie des Dritten Reiches-das habe ich auch erst seit der Arbeit an der Bevölkerungs-wissenschaft entdeckt-methodisch so hochmodern war, daß wir davon bis heute zehren. Schließlich ist das dann in der Dortmunder Sozialforschungsstelle weiter bearbeitet worden, siehe Mackensen und die Arbeiten, die daraus hervorgegangen sind. Das ist ein eigenständiger Zweig der Bevölkerungswissenschaft geworden, der sich von der braunen Vergangenheit teilweise gelöst hat, vielleicht noch nicht inhärent, das müßte halt aufgearbeitet werden, aber Ergebnisse gebracht hat, die man davon lösen kann. So ist es also sehr schwierig für mich, da ein Urteil zu fällen.“ (vgl. Bernhard vom Brocke in Mackensen 1998:100f.) Carsten Klingemann qualifizierte Werner Conzes empirische Arbeiten als „methodisch elaborierte Realanalysen“ (vgl. Klingemann 1996:223).
Für Alfred Ploetz, Hans F.K Günther, Max Hirsch, Wilhelm Schallmayer oder Fritz Lenz wirkten sozialstaatliche Sicherungen generell als ‘nonselectorische Systeme’ (vgl. Breuer 2001:238ff.).
Breuer 2001:243.
Vgl. Sokoll 1992:424.
Sokoll 1992:424.
Mackensen 1998:14.
Sokoll 1992:424.
Ebd., 425. Am intensivsten ist über diese Fragen bisher in der Aufarbeitung zur Fachgeschichte der Sozialge-schichte diskutiert worden: „Ipsen setzte sein bevölkerungssoziologische Arbeit im Gewande einer Sozialprognostik der Bevölkerungsentwicklung Westdeutschlands fort, im Auftrag der Regierung. (...) Kann man da wirklich die Methode von ihren Bezügen zum Nationalsozialismus lösen, wie Rainer Mackensen das bewußt getan hat? Hat Conze wirklich nur die ‘wissenschaftliche Kernsubstanz der Ipsenschen Soziologie’ übernommen und sich ‘von dessen (Ipsens) ideologischer Bedenklichkeit’ freigehalten?“ (Vgl. Etzemüller 2001:69).
Ipsen, Bevölkerungslehre, 424f. zit. nach Flügel 2000:669.
Flügel 2000:669.
Mayer 1989:258.
Davis, Moore 1945:242. dazu auch Berger 2004:365.
Zur Kritik am’ statischen Denkstil’ des soziologischen Funktionalismus, der sozialen Wandel nur in ‘eingefrorener’ Form darstelle Elias 1939, 1997:20–30 (Einleitung zur 2. Aufl., 1969).
“Their absorption into the positional system must somehow be arranged and motivated.” (Davis, Moore 1945:242).
Vgl. zu dieser Kritik bspw. Brepohl 1967.
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(2006). Einführung in die Thematik. In: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90318-7_1
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