Auszug
In seinem Konsumistischen Manifest schreibt Norbert Bolz: „Der Gott der Frommen ist immer einwertig, man kann nicht mit ihm diskutieren. Gott sprach — aber erst mit dem Teufel kommt dann Dialog in den Logos. Damit ist aber der Dialog, dieses Lieblingskind der Liberalen, des Teufels.“3 Fromme hätten, so Bolz, „ein untrügliches Gespür“ dafür, dass der Liberalismus bereits gewonnen hat, wenn der Dialog beginnt.4 Mit den folgenden Überlegungen möchte ich die in Bolz’ Manifest für den „kapitalistischen Konsumismus“ entfaltete liberale Sichtweise umkehren und dafür argumentieren, dass das Denken der „Frommen“ dem Dialog einen Ort und eine Wirklichkeit bewahrt, den dieser im Herrschaftsbereich der liberalen Diskussion längst eingebüßt hat. Es geht mir dabei zugleich darum, eine „fromme“, genauer eine jüdische Perspektive auf die Ideen von „Toleranz“ und „Pluralismus“ oder vielmehr die Bedingungen dieser Perspektive zu skizzieren. Genau hierfür ist es aber wichtig, zunächst den Begriff des Dialogs klar von der Vorstellung einer liberalen Diskussion zu unterscheiden.
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Literatur
Ouaknin (1992), 21.
Goethe Maximen und Reflexionen (Werke XII: 385).
Bolz (2002), 28f.
Bolz (2002), 29.
Die Rede von einer Ernsthaftigkeit des Dialoges bezieht sich hier auf Bolz’ Formel von einer „Religion, die sich ernst nimmt“ bzw. einer „Religion, die es ernst meint“. — Vgl. Bolz (2002), 28.
Vertreter einer „platonistischen“ Lektüre Platons — worunter ich eine Lesart verstehe, die die wesentliche Differenz von Platons Denken zur platonistischen Philosophie, wie sie für die Geschichte des abendländischen Denkens bestimmend wurde, übersieht — argumentieren üblicherweise dahingehend, Platon hätte sich anders als Sokrates durchaus im Besitz eines wesentlichen Wissens geglaubt. Selbst auf der Grundlage einer solchen Deutung Platons wäre allerdings anzuerkennen, dass eine Wissens-Position Platons bestenfalls in jenen Dialogen angenommen werden könnte, die jeden echten Dialogcharakter verloren haben. Grundsätzlicher ist aber festzustellen, dass eine solche Lesart die Tatsache ignoriert, dass Platon seine eigenen Thesen selbst immer wieder in Frage stellt, in jedem Dialog wieder anders ansetzt und neue, zum Teil im Widerspruch zu Früherem stehende Denkversuche unternimmt — eine Widersprüchlichkeit, für die Platon auf der anderen Seite denn ja auch immer wieder kritisiert wird, statt dass hier die jedem Wissensbesitz entgegengesetzte Bewegung eines wesentlich dekonstruktiven Dia-Logos erkannt würde. Bedenkt man, wie wesentlich für Platon die Unterscheidung von philosophia und sophia war, dann lässt sich vertreten, dass eine die Bedeutung des Nicht-Wissens für Platons Denken ignorierende Interpretation es wohl v.a. selbst nicht vermag, sich auf der Höhe dieser Unterscheidung zu halten und Platon genau deshalb wieder zu einem Weisen machen muss. Tatsächlich finden sich in jüngster Zeit ja auch vermehrt Deutungen, die sich gegen den Gedanken eines Platon wenden, der sich im Besitz einer geschauten und in einer Lehre von den Ideen systematisch formulierten Wahrheit geglaubt hätte. Ich möchte hier v.a. auf die philologisch ebenso genaue wie philosophisch reflektierte Studie Le naturel philosophe von Monique Dixsaut (1985) verweisen, die die Bedeutung der philosophia bei Platon gerade auch in der Differenzierung von jeder sophia in einer Weise herausarbeitet, die das wesentlich dekonstruktive Moment seines Denkens sehr deutlich vor Augen führt.
Michael Landmann betont zurecht, dass das Nichtwissen „bei Sokrates nicht auf einem sicheren Grunde von Wissen [ruht], es ist nicht eine hie und da einzunehmende, sondern es ist ihm eine totale Haltung. Er sieht nicht nur verstreute Ungedeutetheiten, sondern steht in einer völlig ungedeuteten Welt.“ (Landmann [1950], 11.) Allerdings ist das Nicht-Wissen des Sokrates, wie bei mehr Raum auszuführen wäre, dabei rein kognitiver Natur. Er weiß durchaus, was er zu tun hat, denn sein Selbst-Bewusstsein ist entscheidend mit dem Bewusstsein verbunden, dass er das Gute zu tun hat — doch was dieses Gute ist, vermag er lediglich via negationis zu untersuchen, nicht aber zu fassen.
Landmann [1950], 9.
Bolz schreibt zu Recht: „Es gibt keine Rationalität und Toleranz ohne Grenzen, das heißt ohne Exklusion. Und Liberalismus war bisher vor allem auch die Kunst, diese Geste unsichtbar zu machen.“ (Bolz [2002], 31) Als erstes und grundlegendes Opfer dieser Exklusion ist genau der klassische Logos zu verstehen, die ihrerseits die Ersetzung des Dia-Logos durch die liberale Diskussion ermöglicht. Vgl. zu der argumentativen Operation, mit der die Meinungen sich von der Macht des Logos befreien: Benny Lévy (2002), insbesondere 220–228.
Es sei, um Missverständnisse zu vermeiden, angemerkt, dass Bolz durchaus sieht, dass der Liberalismus einen wesentlich religiösen Charakter aufweist: „Kurzum: Wir haben es heute mit einem Kampf der beiden Weltreligionen ‘Antiamerikanismus’ und ‘kapitalistischer Konsumismus’ zu tun.“ (Bolz [2002], 9) Meine Argumentation richtet sich hier also allein gegen Bolz’ Eliminierung der Unterscheidung von Dialog und liberaler Diskussion, die als entscheidend für eine fromme liberale Perspektive anzusehen ist. Allerdings hat die fehlende Berücksichtigung des Logos im Dialog durchaus Folgen für die Stichhaltigkeit auch weitergehender Aspekte der Bolzschen Argumentation. Wie oben in meiner Anm. 7 bereits angedeutet, verlangte die Einsicht in die Bedeutung des Logos im Dialog für die Entbindung von immanenten Bindungen qua ab-soluter Bindung etwa danach, die in diesen Kategorien erfolgende Entgegensetzung von traditionaler und liberaler oder säkularer Religion einer kritisch differenzierenden Revision zu unterziehen: „Der Mensch des Glaubens gehört in die traditionale Struktur der wenigen Optionen und der starken Bindungen. Die säkulare Weltgesellschaft dagegen bietet viele Optionen, aber typisch nur schwache Bindungen.“ (Bolz [2002], 9)
Bolz (2002), 28.
Bolz (2002), 27.
Bolz (2002), 37 (Das englische Zitat in der Bolzschen Argumentation stammt von Fukuyama [1992], 236). Auch der hier angeführte Gedankengang von Bolz belegt wieder, dass eine verallgemeinernde Übertragung der Bolzschen Kategorie des Frommen von den Religiösen des Islam auf die des Judentums möglich ist und von dessen eigenen Kriterien her nahe liegt.
Platon Nomoi 716c.
Vgl. hierzu etwa: Lévinas (2002), 65–72. Lévinas entfaltet hier — mit den begrifflichen Möglichkeiten des Existenzialismus — die jüdische Existenz als eine solche, die ihren Ausgang nicht von einer Position nimmt, sondern eher von einer Imposition, die eine absolute Passivität impliziert. Zwar ist der Mensch als Geschöpf frei-gesetzt, diese Freisetzung gründet aber in der Passivität der Schöpfung und steht so in ihrer Verlängerung: „Der Imperativ der Schöpfung, der in den Imperativ des Gebotes und des Gesetzes übergeht, führt eine absolute Passivität ein. Den Willen Gottes zu tun ist, in diesem Sinne, die Bedingung der Faktizität.“ (70f.) Die Freiheit des Geschöpfes hebt seine grundlegende Passivität nicht auf, weil es in diese Freiheit gerade durch die An-Ordnung, Gottes ge-setzt wird. In die Existenz gesetzt, ist das Geschöpf also frei und in der Trennung von Gott auch frei in seinem Denken und Fühlen — der Raum für eigene Meinungen ist also gegeben —, ein Recht auf seine Existenz oder auf seine eigene Meinung ist hier aber nicht konzipierbar.
Gen. 2,16. (Übersetzung von Buber/ Rosenzweig). Vgl. die diesbezüglichen traditionellen Auslegungen, v.a. den Kommentar Raschis.
Gen. 2,17.
Schwartz (2002), 77.
Kant Was ist Aufklärung? (Akademieausgabe VIII: 40).
Zur Ambivalenz der Toleranz vgl. u.a. das aus einer ganz anderen Perspektive geschriebene Buch von Baumann (1991), 281ff.
Goethe Maximen und Reflexionen (Werke XII: 385).
Schwartz (2002), 77.
Deut. 5,15. Mit dem Hinweis auf die Anordnung begründet der Eintrag „Toleranz“ im Jüdischen Lexikon denn auch, dass Toleranz schon früh als sittliche Forderung in der jüdischen Ethik begründet wurde. — Vgl. „Toleranz“, in: Jüdisches Lexikon, Bd. V, Berlin 1930, 974.
Deut. 7,2; 20,16–18.
Ex. 17,14f; Deut. 25,17f.
Vgl. Bab. Talmud, Meguila 10B; Sanhedrin, 39B.
Ex. 14,17.
Sartre (2002), 376.
Lev. 19,18.
Spr. 3,15.
Bab. Talmud, Baba Kama 38A.
Vgl. etwa Sifre Dtn §37.
Als ein Beispiel für einen in diese Richtung gehenden Denkansatz kann etwa auf Alain Badious Versuch verwiesen werden, das Paulinische Denken in einer säkularen Aneignung für eine genuin philosophische Wahrheitskonzeption fruchtbar zu machen (Badiou [1997]). Meine eigene Perspektive schließt v.a. an den Dritten Teil von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung an, insbesondere an das abschließende Dritte Buch des Dritten Teiles.
Bab. Talmud, Metzia 59B.
Ex. 23,2.
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Mattern, J. (2006). Ist der Dialog des Teufels? Überlegungen zu Toleranz und Pluralismus im Blick auf den jüdischen Schöpfungsgedanken. In: Augustin, C., Wienand, J., Winkler, C. (eds) Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90293-7_12
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