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Medien und Gewalt: Anomie durch Entgrenzung

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Auszug

In Kap. 1 haben wir die Vermutung geäußert, dass das Fernsehen und die neueren Kommunikationsmedien (Internet, Video, Handy) anomische Entwicklungen u. a. dadurch fördern, dass sie symbolisch konstituierte Sinnwelten entdifferenzieren („Sinn-Entropie“) und eine wichtige Barriere gegen normabweichendes Verhalten, nämlich die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz), unterlaufen. Unserem Eindruck nach haben sich weder die soziologisch-kriminologische Anomieforschung noch die kommunikationswissenschaftliche Medienwirkungsforschung mit dieser spezifischen Ausformung eines kriminogenen Potentials systematisch beschäftigt.431 Wesentlich mehr Aufmerksamkeit hat man der Frage gewidmet, ob die in den Medien in verschiedenen Programmen und technischen Formaten dargestellte Gewalt432 bei den Konsumenten/Rezipienten die Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten wachsen lässt. Dieser Zusammenhang ist in zahlreichen Studien mit verschiedenen methodischen Ansätzen nachgewiesen worden, wird aber weiterhin kontrovers diskutiert. Mehrheitlich scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass die im Fernsehen und anderen Medien gezeigte Gewalt insbesondere (aber nicht nur — s. Lukesch 2002: 646) bei Kindern und jugendlichen Zuschauern (Konsumenten, Nutzern) die Neigung zu aggressivem und gewalttätigen Verhalten ansteigen lässt (Anderson et al. 2003; Lukesch 2002). Außerdem liegen schlüssig ausgearbeitete Modelle vor, mit denen dieser Zusammenhang erklärt werden kann, wie z. B. die „sozial-kognitive Theorie der Massenkommunikation“ von Bandura (s. die Zusammenfassung in Lukesch 2002: 651 ff.). Anderson et al. (2003: 81) halten die wissenschaftliche Debatte über Mediengewalt für „im wesentlichen“ beendet.

Hierzu kommt in jüngerer Zeit ein verstärkter Anreiz für Technik-Nutzer, Gewalt nicht nur spielerischfiktiv, sondern in realer Brutalität zu inszenieren, um sie per Video oder Handy aufzunehmen und privat oder im Internet zur Schau zu stellen. (Siehe die Folter-Videos aus Abu Ghraib und die aus Großbritannien auf den „Kontinent“ überschwappende „Mode“ des „happy slapping“). Die Anreize hierzu erwachsen zum einen aus der Technik selbst (jeder kann sein eigener Filmemacher werden, sich in die Position eines Regisseurs hieven) und zum anderen aus der Bereitschaft, „Aufmerksamkeit“ als Substitut oder Nachweis für „Anerkennung“ zu betrachten.

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Literatur

  1. Teilaspekte dieser Thematik werden in vielerlei Studien angesprochen, z. B. in dem Band „Affektfernsehen“ von Bente/ Fromm (1997). Auch außerhalb kriminologischer Studien sind negative Effekte des Fernsehens immer wieder hervorgehoben worden. Am bekanntesten ist wohl (neben Postman 1986) Putnams These, wonach der Rückgang des Sozialkapitals in den USA wesentlich durch die Ausbreitung des Fernsehens verursacht worden sei (Putnam 2000; skeptisch hierzu: Norris 2000). Eine Aufzählung verschiedener negativer Effekte des Fernsehens für das Sozialsystem geben auch Frank/Cook (1995: 202 ff.). Eine vehemente Kritik an der vom Fernsehen betriebenen „Charakterformung“ liefert Winterhoff-Spurk (2005). Zur „Sozialpsychologie des Internet“ siehe umfassend Döring (2003); zu kriminogenen Gelegenheitsstrukturen, die das Internet eröffnet, und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Sicherheitsdiskurs s. einführend Thomas/Loader (2000). Fortlaufende Informationen zur Internet-Kriminalität liefern z. B. die private Sicherheitsfirma Symantec Corp. ( http://www.symantec.com ) sowie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ( http://www.bsi.de ). Kommentierende Literaturhinweise zur (allgemeinen) „Soziologie des Internets“ bieten die Bereichsrezensionen von Geser/Bühler-Ilieva (2006) und Schäfer (2006). Für einen Problemüberblick s. auch Becker et al. (2003)

  2. Nach methodologischen Kriterien halten wir die Langzeitanalyse von Johnson et al. (2002) für besonders beweiskräftig. Sie zeigt, dass intensiver Fernsehkonsum als solcher, nicht nur das Betrachten von Gewaltdarstellungen, das Aggressionspotential ansteigen lässt. Das gilt nicht nur für den Fernsehkonsum in der frühen Jugend, sondern auch noch für den Konsum in der frühen Erwachsenenzeit (hier erfasst mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren). Zusätzliche Belege liefert die Langzeitstudie von Huesmann et al. (2003). Als Beispiel für eine empirische Studie mit gegenläufigen Ergebnissen s. Wiegman/Riaglor (1992).

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  3. Man stelle sich einen Menschen vor, der einen schweren Stein zuerst gegen eine Fensterscheibe und dann gegen eine Betonwand wirft. Während die Fensterscheibe zerbricht, bleibt die Betonwand stehen. Würde deshalb jemand auf die Idee kommen zu behaupten: nicht der Steinewerfer, sondern die Fensterscheibe sei ursächlich „Schuld“ an ihrem Zerbrechen, denn die Betonmauer sei unter dem physikalisch gleichen Wurf nicht zerbrochen? Die Argumente mancher Medienwissenschaftler, die dem Fernsehen unter Hinweis auf Moderator-Variablen keine ursächliche Wirkung zuschreiben wollen, entsprechen logisch genau diesem Argument. Zu dieser Debatte s. auch Huesmann/ Taylor (2003).

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  4. Anderson et al. (2003: 100) schließen ihre zusammenfassende Analyse von Moderatoreffekten mit der Bemerkung ab: „although there is evidence of a number of moderating factors (...), there is no evidence that any group is completely protected from the effects of media violence or that any moderator provides complete protection from these effects.“

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  5. Für eine umfassende Geschichte des Fernsehens, die schon im 19. Jahrhundert beginnt (in Deutschland startete das Fernsehprogramm im Jahre 1935 unter den Nationalsozialisten) siehe Hickethier (1998).

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  6. Der Bayerische Rundfunk hatte 1956 mit der Ausstrahlung eines halbstündigen Werbeprogramms begonnen, in dem insgesamt sechs Minuten lang Werbespots gezeigt wurden (Hickethier 1998: 135).

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  7. IP-International Marketing (2001: 47) gibt andere TV-Anteile bei den Werbeausgaben an, ohne dass sich die Reihenfolge der Länder ändert: GB 46,9 %, D 43,9 %, SW 39,8 %.

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  8. Erhebungen der Allensbacher Markt-und Werbeträgeranalyse (AWA) zeigen, dass in Westdeutschland bei den 14-bis 29-Jährigen die Reichweite der Tageszeitungen („gestern Tageszeitung gelesen“) von über 75 % der Befragten im Jahr 1979 auf weniger als 55 % im Jahr 2000 zurückgegangen ist.

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  9. Raue (2005: 16) zitiert außerdem eine Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (MPFS) des Jahres 2001, derzufolge nur knapp 50 % der Jugendlichen eine reale Person als Vorbild angeben; die andere Hälfte nannte ein Vorbild, das sie hauptsächlich aus dem Fernsehen kannte. Eine UNESCO-Studie, bei der 1996/97 5000 zwölfjährige Schüler in 23 Ländern der Erde befragt wurden, kam zu dem Ergebnis, dass 26 % der befragten Kinder einen aus dem Fernsehen bekannten „Action Hero“ als Vorbild nannten; an zweiter Stelle folgten Popstars/Musiker (Groebel 1998: 18). Übrigens gaben in der gleichen Studie 25 % der Jungen und 19 % der Mädchen an, ihr dringlichster Wunsch sei „always to be a winner“; 10 % gaben „ausreichende Nahrung“ an und für 40 % war der größte Wunsch, eine Familie zu haben (ebd., S. 19).

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  10. Pfeiffer (2005b: 7) ermittelt im Jahre 2005 einen Anteil von 36,1 % unter den Zehnjährigen, die über ein Fernsehgerät im eigenen Zimmer verfügen; 36 % haben einen eigenen PC, 26,8 % eine eigene Spielkonsole und 22,4 % ein eigenes Video-oder DVD-Gerät. Bei Kindern ausländischer Eltern sind diese Anteil noch wesentlich höher (ebd., S. 10). Selbst an Schultagen kommt zur durchschnittlichen Fernsehzeit von 103 Minuten eine PC-Video-Spielzeit von 51 Minuten hinzu. Die Seh-und Spielzeiten sind wesentlich höher, wenn das Kind über ein eigenes Gerät verfügt (s. auch unten, Abschn. 7.3).

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  11. Einen Ländervergleich liefert z. B. Bitkom (2003: 12): Im Jahr 2002 wurden in Schweden 61 % der Einwohner als Internet-Nutzer gezählt, in Großbritannien waren es 53 % und in Deutschland 44 %. Im Jahr 2001 hatten in Schweden 20 % der Sekundarschüler einen Internetzugang in ihrer Schule, in Großbritannien 11 %, in Deutschland 4 %. (Sicherlich indizieren solche Zahlen auch Chancen medienpädagogischer Einflussnahme.)

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  12. Feierabend/ Klingler (2003) berichten von repräsentativen Erhebungen, die 1998 und 2002 unter den „Jugendlichen im Alter von zwölf bis 19 Jahren in Telefonhaushalten der Bundesrepublik Deutschland“ durchgeführt wurden. Demnach verfügten im Jahr 2002 etwa ein Drittel der Haupt-oder Realschüler über ein persönliches Video-Gerät, bei den Gymnasiasten waren es 28 %. Zugenommen hat in dem angegebenen Zeitraum der Anteil derer, die über eine eigene Spielkonsole verfügen: bei den Hauptschülern stieg er von 32 auf 47 %, bei den Realschülern von 25 auf 39 % und bei den Gymnasiasten von 16 auf 26 % (ebd., S. 454). Einer MPFS-Studie zufolge war das „Fernsehen“ im Jahre 2002 das am häufigsten (von 62 % der Befragten) genannte Gesprächsthema von Jugendlichen mit ihren Freunden. Bei den Jungen folgten an zweiter Stelle Computer-/Videospiele (53 %) bei Mädchen Zeitschrifteninhalte. Über Bücher redeten regelmäßig nur 7 % der Jungen und 16 % der Mädchen (Feierabend/Klingler 2003: 462). Zum negativen Zusammenhang zwischen der Intensität des TV-/Video-Konsums von Jugendlichen und der sozialen Schicht der Eltern in Schweden s. Rosengren (1997: 67 ff.); für Großbritannien (und Holland) siehe Voort et al. (1998: 62–64).

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  13. Auch Lukesch (2002: 656) berichtet von einer früheren Studie, die zu dem Ergebnis führte, dass Videound Kinofilme stärker als das Fernsehen die Gewaltbereitschaft der Konsumenten stimulieren können.

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  14. Eine psychologische Interpretation der Internet-„Sucht“ (mit einer Problematisierung dieses Begriffs) und zahlreiche Hinweise zur einschlägigen Forschungsliteratur bieten LaRose et al. (2003). Sie betonen vor allem die Rolle der mangelnden Selbst-Regulation, ein Mangel, der u. a. durch Depressionen begünstigt werde.

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  15. Lutz Hachmeister (2005) meint sogar: „Die große Party ist vorüber: Das deutsche Fernsehen wird insgesamt wieder öffentlich-rechtlich“, die Höhe der Zuschauerquoten habe auch für die Werbewirtschaft an Bedeutung verloren.

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  16. „Seit der Zerschlagung der Al-Qaida-Zentrale in Afghanistan ist ihre virtuelle Unterstützung stark gestiegen. Mehr als 4500 dezentrale Websites machen inzwischen Werbung für Al-Qaida. Die milieuinterne Kommunikation läuft weitgehend in Foren, Chat-Räumen und per E-Mail ab... Ziel der Terroraktion sind nicht Zerstörung und Gewalt, sondern die durch die Tat erlangte Aufmerksamkeit. Erst in der öffentlichen Aufmerksamkeit wird ein Forum zur Verbreitung der inhaltlichen Botschaft gesehen“ (Daniel Dettling in einem Gastkommentar für die Süddeutsche Zeitung v. 29.3. 2006, S. 2). Zu Internet-Adressen, die eine „neue Pornografie des Krieges“ anbieten s. Sonja Zerki in der Süddeutschen Zeitung v. 30. 9. 2005. Laut einer Notiz in der Süddeutschen Zeitung v. 10. Febr. 2005 hat in Großbritannien Channel 4 mit „Folter-Shows“ begonnen, die Folterpraktiken im US-Gefangenenlager in Guantanamo simulieren sollen.

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  17. Diedrich Diederichsen (2006) schreibt mit Blick auf die Big-Brother-Sendungen und andere Formen des Reality-TV: „Nichts ist kranker als den beschädigsten Opfern einer Gesellschaft — denn das sind naturgemäß die Angehörigen der Unterschicht — dabei zuzuschauen, wie sie auf Befehl versuchen, authentisch zu sein... Diese Fernseh-Unterschicht ähnelt am ehesten dem, was in der Antike ein Gladiator gewesen sein muss. Ein Elender, dessen Elend zugleich Voraussetzung für eine bestimmte Art Ruhm ist...“.

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(2007). Medien und Gewalt: Anomie durch Entgrenzung. In: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90285-2_7

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