Auszug
Warschau, 7. Dezember 1970. Bundeskanzler Willy Brandt stattet Polen einen offiziellen Besuch ab. Zweck dieser ersten Reise eines deutschen Kanzlers nach Warschau ist die Unterzeichnung des „Warschauer Vertrages“, mit dem ein erster Schritt in Richtung Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik vollzogen werden soll. Der Zweite Weltkrieg liegt erst fünfundzwanzig Jahre zurück, die Kriegsgeneration bestimmt das öffentliche Leben und Polens Sicht auf Deutschland ist nach wie vor von den Erinnerungen an das nationalsozialistische Unrechtsregime geprägt. Die Stadt Warschau ist dabei ein besonders sensibler Ort für eine solche Begegnung, wurde sie doch, nachdem deren Einwohner den nationalsozialistischen Besatzungsbehörden fünf Jahre lang unterworfen waren und nach zwei verzweifelten Aufständen, nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Wenige Stunden nach der Unterzeichnung des Vertrages, in dessen Präambel Polen als erstes Opfer des Zweiten Weltkriegs benannt und mit dem die Westgrenze Polens anerkannt wird, erweist die deutsche Delegation den Opfern des Warschauer Ghettos mit einem Besuch des Denkmals für die Helden des Ghetto-Aufstandes ihre Referenz. Für alle völlig überraschend kniet Willy Brandt nach der Kranzniederlegung vor dem Denkmal nieder, das zur Erinnerung an den Aufstand der jüdischen Bevölkerung im Jahr 1943 nur wenige Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs errichtet worden war. Über dreißig Sekunden verharrt Brandt in dieser fast religiösen Demutshaltung, die als Schuldeingeständnis sofort zum Symbol wird. Sein besonderes Gewicht erhält der Kniefall von Warschau dadurch, dass gerade Brandt, der in der Zeit des Nationalsozialismus selbst zu den Opfern zählte, sich für sein Land und dessen Geschichte zu diesem Eingeständnis von Schuld bereit findet.
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Weiterführende Literatur
Brochhagen, Ulrich (1994), Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg Junius. Brochhagen untersucht, wann und inwieweit in den 1950er Jahren der Umgang mit Personen, die während der Jahre 1933—1945 Verantwortung trugen oder an Verbrechen beteiligt waren, zum Problem in den auβenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik zu den Westmächten wurde.
Jeismann, Michael (2001), Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart/München Deutsche Verlags-Anstalt. Jeismann vertritt die These, dass die Epoche der „ Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik in den 1990er Jahren zu Ende gegangen ist. Illustriert wird diese These an zahlreichen Beispielen, u.a. aus dem Bereich der Auβen-und Sicherheitspolitik.
Levy, Daniel/ Sznaider, Nathan (2001), Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. Suhrkamp. Levy und Sznaider untersuchen am Beispiel der Erinnerung an den Holocaust den Wandel von nationalen zu kosmopolitischen Erinnerungskulturen und zeigen in diesem Zusammenhang auf, dass die Holocaust-Erinnerung zur Grundlage für globale Menschenrechtspolitik wird.
Markovits, Andrei S./ Reich, Simon (1998), Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht, Berlin Alexander Fest Verlag. Markovits und Reich widmen sich der Frage, inwieweit die Geschichte Deutschlands Aktivitäten und Handlungsmöglichkeiten vor allem europäischer Staaten in der Auβenpolitik beeinflusst. Ein Teil ihrer Untersuchung beschäftigt sich mit den Reaktionen auf die deutsche Vereinigung und den Bedenken, die diese in Israel, den USA und in verschiedenen europäischen Staaten ausgelöst hat.
Schwab-Trapp, Michael (2002), Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999, Opladen Leske + Budrich. Im Mittelpunkt der Untersuchung von Schwab-Trapp stehen die Stellungnahmen führender Akteure der politischen Öffentlichkeit für oder gegen eine deutsche Beteiligung an militärischen Interventionen in den 1990er Jahren.
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Schwelling, B. (2007). Die Außenpolitik der Bundesrepublik und die deutsche Vergangenheit. In: Schmidt, S., Hellmann, G., Wolf, R. (eds) Handbuch zur deutschen Außenpolitik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90250-0_6
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