Auszug
Die entscheidende epistemologische Voraussetzung der Sozialdisziplinierung ist die Vorstellung einer spezifischen und fragilen Parallelitat zwischen der äußeren Verfassung des Gemeinwesens und der „inneren Verfassung“ des Individuums. Das Aufkommen pädagogischer, korrigierender und disziplinierender Maßnahmen sowie spezialisierter Institutionen verdankt sich dem Bild einer zwar nicht guten, aber doch veränderbaren, formbaren und damit verbesserbaren Natur des Menschen. Menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Tugenden sind nicht vorgegeben und angeboren, sondern in einem prinzipiell offenen Prozess erst zu entwerfen und zu „modellieren“. Anders als nach der mittelalterlichen Weltsicht hat Erziehung nicht nur etwas zu wecken, das von Gott verliehen und in der Natur ohnehin angelegt ist; vielmehr muss sie in die Menschen etwas hineinlegen, was dort nicht vorhanden ist. Bezeichneten „Gewohnheiten“ bisher etwas, das mit kollektiven Traditionen und ursprünglichen Rechten eng verbunden war, so werden sie nun zu einem individuellen Merkmal und zu einem der Zukunft zugewandten Projekt der Wiederholung und Verbesserung. Es ist ihre Aufgabe, die vorhandenen Anlagen und Begierden der Einzelnen durch die Ausbildung einer „zweiten Natur“ zu korrigieren und zu optitnieren (vgl. Sonntag 1999, S. 127 ff.). Die Theorie der Gewohnheit, die der äußerst einflussreiche Pädagoge Johannes Ludovicus Vives in Libri de disciplinis (1531) entwickelt, zielt auf die Korrektur einer Fehlentwicklung, die als Tendenz bereits in der Natur des Menschen angelegt ist: Da nun aber der menschliche Geist durch die Leidenschaften der Seele zum Bösen gedrängt wird, so muß jede derartige unbewußte Regung durch Tadel, geißelnde Worte und, wenn’s not thut, auch durch Schläge unterdrückt werden, damit nach der Art der Tiere den der Scmerz zum Rechten zurückbringt, bei dem es die Vernunft nicht vermag (zit. nach Dreßen 1982, S. 33, S. 33 ff.).
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© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Türk, K., Lemke, T., Bruch, M. (2006). Vom Oikos zur Ökonomie: Die Formierung der Wirtschaftsgesellschaft. In: Organisation in der modernen Gesellschaft. Organisation und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90152-7_9
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-33752-4
Online ISBN: 978-3-531-90152-7
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