Auszug
Ein Versuch, das Konzept identitärer Demokratie mit der zunehmenden Bedeutung politischer Parteien im Zeitalter der Massendemokratie zur Deckung zu bringen, wurde gegen Ende der zwanziger Jahre durch den jungen Gerhard Leibholz vorgenommen236. Seine Parteienstaatslehre ist von Interesse, da sich Leibholz noch zur Weimarer Zeit schließlich zu einer Auffassung „durchkämpft“, die die Rolle der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung akzeptiert. Angesichts des von Leibholz festgestellten unumkehrbaren Strukturwandels237 des liberal-demokratischen Repräsentativparlamentarismus zur (plebiszitären!) Massendemokratie werden die Parteien in seiner Demokratietheorie zum tragenden Element. Demokratie im 20. Jahrhundert ist für Leibholz daher notwendigerweise Parteiendemokratie. Diese Einsicht hebt sich von den parteieinfeindlichen Standpunkten seitens Schmitt, Smend und Triepel eindeutig ab und bringt ihn - in diesem Punkt - in die Nähe zu Kelsen. Auf der anderen Seite ist jedoch festzuhalten, dass Leibholz trotzdem kein Durchbruch zu einer pluralistischen Demokratietheorie gelingt. Seine Lehre bleibt dem Begriff der politischen Einheit als einer Identität von Regierenden und Regierten verhaftet und zeigt zugleich exemplarisch, dass eine „mittlere“ Linie zwischen den Positionen „politische Einheit“ (Schmitt) und „Pluralismus“ (Kelsen) als - tertium non datur - „Quadratur des Kreises“ scheitern muss.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Zu Leibholz einschl. biographischer Aspekte vgl. allgemein die Arbeit von Wiegandt, Norm und Wirklichkeit; zur Parteienstaatslehre insb. S. 150 ff sowie: Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz; mit speziellem Blick auf die Wirkungsgeschichte der Parteienstaatslehre vgl. Hecker, Die Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz in der wissenschaftlichen Diskussion, S. 287 ff. Kurze Darstellung auch bei Song, Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 204 ff.
Vgl. Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie (1952), S. 78 ff.
Leibholz, Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems (1929). Die Gutachter der Habilitationsschrift waren Heinrich Triepel und Rudolf Smend. Leibholz, der nach der Rückkehr aus dem englischen Exil während seiner langjährigen Richtertätigkeit von 1951–1971 das Bundesverfassungsgericht in seinen Gründerjahren mitprägen sollte, hat Zeit seines Lebens unbeirrt an der schon in der Habilitationsschrift in ihren Grundzügen voll entwickelten Parteienstaatslehre festgehalten. Vgl. auch die Vorworte zur 2. und 3. Aufl., die-obschon unter neuem Titel-bewusst keiner Änderung unterzogen und nur um ergänzende Aufsätze erweitert wurden: Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert (folgend zitiert als: Leibholz, Repräsentation). Noch vor einigen Jahren hob Hennis polemisch hervor, dass Leibholz als „verfassungspolitisch ambitionierter Gelehrter... ein Verhängnis (war)“ und seine Lehre die „Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zum heutigen Tag... belastet“; Der „Parteienstaat“ des Grundgesetzes, S. 117 bzw. S. 121 f.
Leibholz, Repräsentation, S. 44 f; bzgl. der Organismuslehre verweist Leibholz auf von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände.
Vgl. Leibholz, ebd., S. 128; Leibholz bezieht sich hier selbst auf Schmitt, Verfassungslehre, S. 49.
Kelsen hält dagegen die Repräsentation für eine-zudem überflüssige-Fiktion; vgl. z. B. Kelsen, Parlamentarismus, S. 8 ff.
Vgl. Leibholz, Repräsentation, S. 26, wiederum mit ausdrücklichem Bezug zu Schmitt. Die zitierte Stelle bei Schmitt lautet: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen“, Verfassungslehre, S. 209.
Methodisch rekurriert Leibholz auf die „phänomenologische Betrachtungsweise“ nach Husserl, Scheler und Litt, die Staatstheorie setzt für ihn daher die geisteswissenschaftliche, intuitive „Wesensschau“ voraus; vgl. Leibholz, Repräsentation, S. 18. Zur Kritik dieses Ansatzes als „willkürlich“, sich einem rationalen Diskurs entziehend vgl. m. w. N. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 94 ff; auch kurz bei Unruh, Erinnerung an Gerhard Leibholz (1901–1982), S. 78.
Dabei ist anzumerken, dass das, was „Leibholz unter dem ‚Wesen der Repräsentation ‘verstand,... die Erkennbarkeit apriorischer, überzeitlicher staatstheoretischer Begriffe voraus(setzte). Er war wie viele seiner phänomenologisch-philosophierenden Zeitgenossen überzeugt, es müsse möglich sein, durch ‚material-intuitive Schauung in synoptischer Analyse ‘direkt zu Evidenzen vorzustoßen“; Stolleis, Bd. 3, S. 198. Dabei konnte er „sein eigenes subjektives Verständnis in das Recht hineinlesen“; Wiegandt, Zwischen antiliberalen und demokratischen Vorstellungen, S. 347.
Leibholz, Repräsentation, S. 28.
Ebd., S. 28 f; immerhin macht Leibholz selbst auf die Analogie mit dem Abendmahl-die Wandlung von Wein und Brot in Blut und Leib Christi-aufmerksam. Zur Unterscheidung und Definition von Repräsentation und Identität bei Schmitt vgl. Verfassungslehre, S. 204-220.
Im Ergebnis wird damit der Unterschied zwischen Repräsentation und Identität überhaupt wieder aufgehoben. Zu diesem Widerspruch mit weiteren Nachweisen vgl. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 169.
Vgl. auch Leibholz, Repräsentation, S. 57, wo er in Hinblick auf die Repräsentation mit Verweisen auf Heller und Smend ausführt: „Der Sinn dieser Funktion ist, die als geistige Einheit existentiell vorhandene, konkrete Volksgemeinschaft in der Realität empirisch greifbar zu machen, ‚die Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit’ sicherzustellen, das Volk zur staatlichen Einheit zu integrieren“.
Vgl. ebd., S. 119 f.
Vgl. insgesamt ebd., S. 98 ff.
Vgl. ebd., S. 113 ff; auch Leibholz, Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen; zuerst veröffentlicht in VVDStRL (1932), jetzt als „Die Grundlagen des modernen Wahlrechts“, S. 9 ff. Leibholz hielt die Verhältniswahl bzgl. des Repräsentativsystems für „wesensfremd“ und daher mit diesem für unvereinbar.
Leibholz, Repräsentation, S. 103; vgl. hierzu die einschlägigen Stellen der Parlamentarismuskritik bei Schmitt.
Vgl. auch den Wortlaut des Art. 21 WRV; dieses Verständnis kommt nach wie vor-wenn auch nur noch im auszutarierenden Spannungsverhältnis zu Art. 21 I GG-in Art 38 I Satz 2 GG zum Ausdruck: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden...“. Zur Stellung des Abgeordneten als „Repräsentant“ vgl. z. B. BVerfGE 80, 188.
Leibholz, Repräsentation, S. 99
Ebd., S. 104.
Ebd., S. 100 f; hier mit positiven Bezug auf die Parteienkritik seines Lehrers Triepel und mit ausdrücklicher Ablehnung der Position Kelsens.
Ebd., S. 118. Pointierter noch seine Formulierung von 1931: Danach ist „die parteienstaatliche Massendemokratie... das Surrogat der unmittelbaren Demokratie im Flächenstaat“, Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts, S. 23. Später auch formuliert als „rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie“, Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, S. 93.
Leibholz, Repräsentation, S. 118 f.
Ebd., S. 123; vgl. auch Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 164 f.
Schmitt, Der Hüter der Verfassung, zuerst in einer kürzeren Fassung schon 1929 im AöR publiziert.
Vgl. Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts, S. 26 f. Zu dieser Einschätzung vgl. auch Song, Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 206 f. Hecker, Die Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz in der wissenschaftlichen Diskussion, S. 297, zeigt, dass selbst zu diesem Zeitpunkt die Haltung von Leibholz für die Teilnehmer der Diskussion nicht so klar einzuordnen war.
Die Einschränkung des Verhältniswahlsystems hält Leibholz nicht nur für wenig zweckmäßig bei der Eindämmung der Parteienzersplitterung im Reichstag. Es ist ihm außerdem Ausdruck des plebiszitären Parteienstaats, so wie er das Mehrheitswahlsystem dem repräsentativen Parlamentarismus zuordnet; vgl. insgesamt Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts.
Diese Forderung schlägt sich bei der Konzeption des Grundgesetzes vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den gerade auch in ihrer Binnenstruktur diktatorisch organisierten Parteien KPD vor allem aber NSDAP Jahre später in Art. 21 I Satz 3 nieder. Hecker, Die Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz in der wissenschaftlichen Diskussion, S. 291, hebt dies zu Recht als bahnrechende Leistung hervor. Allerdings ist es nicht erst Leibholz, sondern schon einige Jahre früher Kelsen, der dies als Konsequenz aus den Ergebnissen der Parteiforschungen von Robert Michels gefordert hat.
Leibholz, Repräsentation, S. 119.
Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts, S. 26; hier in der Auseinandersetzung mit Schmitts „Hüter“.
Vgl. die Bedeutung Schmitts etwas relativierend, die Bezüge auch zu Triepel, Smend und Thoma herausstellend Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 308.
Benöhr stellt darüber hinaus zwei weitere Unterschiede fest: 1. bzgl. des Rekurses von Leibholz auf die Integrationslehre Smends, die die politische Einheit als Prozess begreift, und 2. darin, dass „Schmitt eine völkisch/bzw. rassische Homogenität voraussetzte, während Leibholz von einer Homogenität innerhalb der Volksgemeinschaft durch eine gemeinsame Wertgemeinschaft, die auch durch Mussolini vermittelt werden konnte, ausging“; Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz, S. 162. Aber auch im Falle von Leibholz bleibt es die antipluralistische politische Einheit als „Volksgemeinschaft“; vgl. in diesem Kontext auch seine Analyse des italienischen Faschismus: Leibholz, Zu den Problemen des fascistischen Verfassungsrechts (1928). Deren Bedeutung für das Verständnis der Weimarer Schriften veranschlagt Benöhr höher als Wiegandt, der hierauf bezogen lediglich von einer „gewissen wissenschaftlichen Blauäugigkeit“ spricht; Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 306.
Schmitt, Verfassungslehre, S. 247 f. Schmitt sah jedoch schon zu dieser Zeit in der durch „acclamatio“ des Volkes getragenen plebiszitären Diktatur das Konzept identitärer Demokratie.
Stolleis, Bd. 3, S. 199. Dagegen a. A. Hecker, Die Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz in der wissenschaftlichen Diskussion, S. 299. Als Beleg für die ablehnende Haltung von Leibholz gegenüber dem Kollektivismus von links und rechts zitiert Stolleis hier aus der Aussprache im Anschluss an den von Leibholz gehaltenen Bericht in Halle; vgl. Die Grundlagen des modernen Wahlrechts, S. 38. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 306, verweist darauf, dass die dem „Lager des Positivismus“ zuzuordnenden Thoma und Anschütz, Leibholzens Lehrer während der Heidelberger Zeit, seine politische Überzeugung als Demokrat geprägt haben, bevor er dann zu Triepel und Smend nach Berlin wechselte. Der-gescheiterte-Versuch von Leibholz in einem „dritten Weg“ Parteiendemokratie und „politische Einheit“ zur Deckung zu bringen, mag biografisch darin begründet liegen.
So auch Hecker, ebd., S. 292; Unruh, Erinnerung an Gerhard Leibholz (1901–1982), S. 77.
Vgl. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild (1933), z. B. S. 65 und S. 76.
Ebd., S. 57.
Ebd., S. 56, 58 und 59.
Vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, § 8.
Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie, S. 59 f.
Ebd., S. 60 f; die Begrifflichkeit geht zurück auf Schmitt, Politische Theologie, S. 53 f, der seinerseits sich hier mit der „Immanenz“ des Positivismus mit direktem Bezug zu Kelsen auseinandersetzt; vor Schmitt ist es Kelsen (Gott und Staat) gewesen, der diese Implikationen thematisiert hat, seinerseits auf die Arbeit von Bakunin (Gott und der Staat) zurückgreifend.
Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie, S. 35.
Ebd., S. 42 f; Stelle auch bei Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz, S. 90, zitiert, jedoch nicht im Interpretationskontext der bei Leibholz hier diskutierten und zugrunde liegenden politischen Theologie.
Leibholz, ebd., S. 45; bei Schmitt ist ja die „Entzauberung der Welt“, der Verlust des Heils, der Hintergrund seines Kampfes gegen Kelsen; vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, § 12.
Leibholz, ebd., S. 49.
Ebd., z. B. S. 16, S. 49.
Ebd., S. 50.
Ebd., S. 66.
Ebd., S. 66.
Ebd., S. 79.
Ebd., S. 77; mit anderer Interpretation Wiegandt, Zwischen antiliberalen und demokratischen Vorstellungen, S. 360 f. Wiegandt kann zwar darauf verweisen, dass diese Schrift von Leibholz auch liberale, antitotalitäre Textstellen enthält und er sieht ganz klar, dass dessen Arbeiten „oszillieren“. Dennoch ist sein Bild von Leibholz gerade auch bzgl. der Parteienstaatstheorie zu positiv, weil er das dahinterstehende Konzept von identitärer „Volksgemeinschaft“ zu wenig berücksichtigt.
Rights and permissions
Copyright information
© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
(2006). Kritik der Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz. In: Politik und Verfassung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90077-3_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-90077-3_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15075-8
Online ISBN: 978-3-531-90077-3
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)