Auszug
Auf den Begriff der „Integration“ stößt man im öffentlichen Diskurs allenthalben. Nicht nur bei der jüngst geführten heftigen Diskussion um die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts wird etwa der „Ausländer“ in die vermeintliche „politische Einheit“ des deutschen Volkes „integriert“ - im übrigen von den Kritikern wie auch von den Befürwortern der erfolgten Gesetzesänderung195. In geradezu schon „klassischer“ Weise wird auf die „Integration“ vor allem zurückgegriffen, wenn es um die Bestimmung von Stellung und Funktion des Bundespräsidenten geht. Dies gilt offensichtlich in Zeiten ramponierten Ansehens von Politikern durch die aktuellen Parteispenden-Skandale in außerordentlichem Maße:
„Die Sehnsucht nach einer moralischen Kraft an der Spitze des Staates ist in Krisenzeiten besonders groß. Durch die Flugaffäre fiel Rau in einem Augenblick aus, in dem er dringend gebraucht worden wäre..., Gelähmter Präsident’, wurde in den Medien gehöhnt, ‚kopflose Republik’“196. Diese Sehnsucht nach kollektiver präsidialer „Sinnstiftung“ ist dabei kein Phänomen, das sich allein in der Presse beobachten lässt. Die juristische Standardliteratur zum Grundgesetz etwa beschreibt die Funktion des Präsidenten als „neutral-integrierend“197, als Element der „Erhaltung staatlicher Einheit“198 bzw. als „integrierend wirken“199. Dies mag angesichts der Traditionsstränge und „Schulenbildung“200 in der Rechtswissenschaft nicht überraschen. Erstaunlich ist jedoch, dass diese Lehre von der Politikwissenschaft zwar nicht völlig kritiklos aber dennoch übernommen wird. Auch hier ist von dem „Integrationsfaktor“201, der „Integrationsfigur“ und dem „Integrationssymbol“202, dem Repräsentanten der „Einheit des Staates“203, dem „Amt für die Kontinuität und den Zusammenhalt einer konfliktbestimmten demokratischen Ordnung“204, schließlich von der Person, die „über dem parteipolitischen Kampf und der machtpolitischen Auseinandersetzung stehen“, die „Einheit des Staates symbolisieren“205 soll, in verbreiteten Einführungswerken zum politischen System der Bundesrepublik die Rede.
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Literatur
Vgl. hier Kap. III A; van Ooyen, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Integration.
Grunenberg, Schmerz im Schloss; in: Die Zeit vom 27.01.2000; hier mit dem Bezug zum CDU-Parteispenden-Skandal.
Hemmrich, Art. 54 GG, Rnr. 1.
Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 229; vgl. auch Ipsen, Jörn, Staatsrecht I, S. 111 f. und S. 122.
Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 291
Vgl. z. B.: Hammans, Das politische Denken der neueren Staatslehre in der Bundesrepublik; Köppe, Politische Einheit und pluralistische Gesellschaft.
von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik, S. 295.
Rudzio, Das politische System, 4. Aufl., S. 323 bzw. 5. Aufl., S. 348; mit dem Hinweis, dass dies gar im Sinne einer „geistigen Führung... mit der Logik einer parlamentarischen Demokratie schwer vereinbar sein (dürfte)“; S. 349.
Ellwein/ Hesse, Das Regierungssystem, Bd. 1, S. 334.
Sontheimer, Grundzüge des politischen Systems, S. 265.
Sontheimer / Bleek, Grundzüge des politischen Systems, S. 330; gerade Sontheimer hat jedoch in seinen Arbeiten zur politischen Kultur in Deutschland genau dieses Verständnis von Politik zu Recht als „etatistische Tradition“ beklagt; vgl. S. 184 f.
Schwarz, Von Heuss bis Herzog, S. 13; an Schwarz sich orientierend und aus empirischer Sicht kritisch die „Neutralität“ dekonstruierend Oppelland, (Über-)parteilich?, S. 551 ff.
Schwarz, ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Vgl. z. B. die eingangs genannten Fundstellen. Dies gilt auch für weitere Grundsätze, die auf Smend zurückgehen, wie z. B. den der „Bundestreue“; vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, S. 39 ff. Das BVerfG hat sich in dieser Frage explizit auf Smend berufen, so z. B. im Urteil „Deutschland-Fernsehen“ von 1961; vgl. BVerfGE 12, 205. In dieser Hinsicht ebenfalls aufschlussreich und eine Art „Synthese“ von Leibholz und Smend der federführend von Leibholz erstellte und auf die Integrationslehre rekurrierende „Statusbericht“ zum Bundesverfassungsgericht. Darin wird nur insofern von der Integrationslehre abgewichen, dass Smend seinerzeit „den Integrationsprozeß allein den originär dazu berufenen politischen Instanzen überantwortete und die Verfassungsgerichtsbarkeit als Integrationsfaktor zunächst ausgeschieden hatte“; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 276.
Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, S. 395; ausführlicher vgl. Korioth, ebd., insb. Teil 3 „Grundlinien der Smend-Rezeption nach 1945“, S. 228 ff.
Herzog, Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane, S. 3.
Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 81; die „Integration“ des „Staatsvolks“ als „zentrale Notwendigkeit“ mit explizitem Rückgriff auf Smend kurz auch in: Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, S. 119. Eine kurze Einordnung der Staatslehre Herzogs findet sich auch bei Hammans, Das politische Denken in der neueren Staatslehre, S. 50 ff. Danach steht diese in der Tradition des „autoritären Etatismus“.
Herzog, Allgemeine Staatslehre, ebd., S. 44.
Herzog, Pluralismus, pluralistische Gesellschaft, Sp. 2539 ff.
Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 82. In den späteren Reden seiner Präsidentschaft schimmert dieses Verständnis durch, z. B.: „Die Nation ist eine Gemeinschaft, die getragen ist vom Gefühl gemeinsamer Hoffnungen und gemeinsamer Opfer, vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger. Hier liegt ein tragender Gedanke jeder Form von Gemeinschaft...“; Herzog, Statement „Unverkrampfte (!) Nation“ vom 01.10.1995.
Herzog, Strukturmängel der Verfassung?, Kap. „Die Schicksalsfrage, Demographie und Demokratie“, S. 136, hier mit Bezug zur „Rentenproblematik“. Die Idee, dass dies rein rechnerisch, so wie Herzog es hier betrachtet, schon allein durch Zuwanderer lösbar wäre, scheint ihm gar nicht zu kommen-offenbar, weil diese nicht so einfach zum „deutschen Volk“ als „Schicksalsgemeinschaft“ gezählt werden können.
Vgl. so schon Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Diese Ambivalenz zeigt sich aktuell auch beim sog. Kommunitarismus, wonach die vermeintliche „Zerfaserung“ der „liberalistischen“ Gesellschaft kritisiert und hiergegen in zum Teil offener Ablehnung der pluralistischen Demokratie die homogene Einheit einer Gemeinschaft positioniert wird; vgl. einführend: Reese-Schäfer, Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland, S. 3 ff; Tönnies, Sibylle, Kommunitarismus — diesseits und jenseits des Ozeans, S. 13 ff; Brunkhorst, Demokratie als Solidarität unter Fremden, S. 21 ff.
Herzog hält allenfalls das Verfassungsgericht noch für integrationsfähig; vgl. Herzog, Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane, S. 17 ff.
Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 289 f.
Herzog, Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane, S. 16.
Herzog, Art. 54 GG, Rnr. 99.
Herzog, Der Integrationsgedanke und die obersten Staatsorgane, S. 20.
Herzog, Art. 54, Rnr. 90.
Vgl. z. B. Triepel, Die Staatsverfassungen und die politischen Parteien.
Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, S. 289.
Herzog, Art. 54, Rnr. 90; dagegen richtig die „banale“, gleichwohl erfrischende Erkenntnis bei Oppelland, (Über-)parteilich?, S. 567: „Das Amt des Bundespräsidenten ist ein politisches Amt, über dessen Besetzung von Parteipolitikern entschieden wird“.
Herzog, Art. 54, Rnr. 7.
Ebd., Rnr. 97.
Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung.
Hier eher mit Bezug auf das politische System der USA beklagt nämlich Herzog: „Integrationsquellen von bes. Wirksamkeit sind regelmäßig die vom ganzen Volk gewählten Staatsoberhäupter, sofern sie über echte Entscheidungsbefugnisse verfügen... Das dt. Verf.system, das auf den Traditionen des Parlamentarismus aufbaut und überdies einen ausgesprochen schwachen Bundespräsidenten besitzt, hat dem im Führer der Regierungspartei und seiner ‚Mannschaft ‘nicht immer Vergleichbares zur Seite zu stellen“; Pluralismus, pluralistische Gesellschaft, Sp. 2547.
Zur Typologie der Regierungssysteme vgl. Brunner, Vergleichende Regierungslehre; auf den Streit um das „Mischsystem“ als Typus kann hier nicht eingegangen werden, vgl. daher mit a. A. Steffani, Parlamentarisch-präsidentielle „Mischsysteme“?, S. 11 ff.
Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 363.
Vgl. Loewenslein, Der Staatspräsident, S. 331 ff.; vor allem aber Loewenstein, Verfassungslehre, Kap. zu den Organkontrollen, S. 167 ff.
Zur Problematik des umstrittenen sog. materiellen Prüfungsrechts im Rahmen des Art. 82, das vereinzelt in der Praxis geltend gemacht wurde (z. B. durch Richard von Weizsäcker bzgl. des Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes 1991-hier reklamierter Verstoß gegen Art. 33 IV und Art. 87 d I GG) vgl. mit zahlreichen Nachweisen: Bryde, Art. 82 GG.
Vgl. Herzog, Strukturmängel der Verfassung?, S. 33 f.; angesichts der durchaus realistischen Möglichkeit bei der Bundestagswahl 1998 für den Fall, dass „Rot-Grün“ nicht die absolute Mehrheit erreicht hätte, der Kanzler mit den Stimmen der PDS-Abgeordneten gewählt, ohne dass die PDS jedoch an der Regierungskoalition beteiligt worden wäre.
Ebd., S. 35.
Diese „Entrückung“ ist noch nicht einmal dem Bundesverfassungsgericht gelungen, das sich immerhin manchmal Kritik gefallen lassen muss, obschon es im Ansehen der Bürger auch ganz weit „oben“ rangiert und dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil es (wie der Bundespräsident) von einem obrigkeitsstaatlichen, antipolitischen Affekt profitiert; vgl. so z. B. aktuell: Vorländer, Der Interpret als Souverän. Zur „etatistischen“ und „unpolitischen“ Tradition in der deutschen politischen Kultur sei noch einmal verwiesen auf Sontheimer / Bleek, Grundzüge des politischen Systems, S. 182 ff.
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(2006). Kritik der Integrationsfunktion des Bundespräsidenten bei Roman Herzog. In: Politik und Verfassung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90077-3_15
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