Auszug
Der deutsche Bundesstaat ist reformbedürftig. Darüber herrscht in Politik und Wissenschaft bereits seit langem Einvernehmen. Die konkreten Inhalte der Föderalismusreform aber waren (und sind noch immer) höchst umstritten. Um Gestaltungsspielräume neu bzw. wieder zu eröffnen, und zwar für Bund und Länder gleichermaßen, haben Bundestag und Bundesrat am 30. Juni und 07. Juli 2006 im Rahmen der größten Revision des Grundgesetzes seit 1949 (25 Artikel) die „Entflechtung“ der beiden Ebenen beschlossen. Aufbauend auf den Ergebnissen der am 17. Dezember 2004 gescheiterten „Bundesstaatskommission“ (eingesetzt am 16./17. Oktober 2003)2 und den entsprechenden Vereinbarungen von CDU/CSU und SPD3, gelang es der Großen Koalition — mit ganz erheblichen Schwierigkeiten —, die ersehnte Reform des Föderalismus in Deutschland nach jahrelanger Debatte endlich Wirklichkeit werden zu lassen.4
Das Gesetzgebungsverfahren begann am 10.03.2006, nachdem am 16.02.2006 bei einem Treffen der jeweiligen politischen Spitzen letzte Streitpunkte zwischen Bund und Ländern ausgeräumt worden waren. Von der Reform betroffen sind die Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c und 143c; vgl. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/813 vom 07.03.2006 sowie Bundesrat, Drucksache 462/06 vom 30.06.2006; vgl. auch das Föderalismusreform-Begleitgesetz, welches die notwendigen Folgeregelungen auf einfach-rechtlicher Ebene beinhaltet: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/814 vom 07.03.2006.
Vgl. zur Bundesstaatskommission u.a. näher Decker 2004b, Jun 2004, Hrbek/Eppler 2005 sowie Fischer 2005.
Vgl. den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 93 sowie Anhang 2.
Die Regierungskoalition aus Union und SPD erreichte die in Bundestag und Bundesrat für eine Verfassungsreform notwendige Zweidrittelmehrheit zwar, konnte aber im Bundestag nicht alle Stimmen der eigenen Fraktionen für die Reform gewinnen. 428 von 592 anwesenden Abgeordneten des Bundestages stimmten für die Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen, 15 Abgeordnete der SPD votierten jedoch dagegen. Bei der Abstimmung im Bundesrat lehnte lediglich das von SPD und Linkspartei/PDS geführte Land Mecklenburg-Vorpommern die Reform ab, das CDU-SPD-regierte Schleswig-Holstein enthielt sich der Stimme, was jedoch aufgrund des Abstimmungsmodus faktisch einer Ablehnung gleichkommt.
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Grasse, A. (2006). Territoriale Gerechtigkeit im deutschen Bundesstaat — Reformen im Spagat von Wachstums- und Verteilungsproblemen. In: Grasse, A., Ludwig, C., Dietz, B. (eds) Soziale Gerechtigkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90042-1_9
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