Zusammenfassung
Der Beitrag entwickelt auf Grundlage der raumtheoretischen Überlegungen Henri Lefebvres eine theoretische und methodische Perspektive, die den Fokus vom Raum „an sich“ auf den gesellschaftlichen Prozess seiner Produktion und Reproduktion verschiebt. Diese Perspektive öffnet die Möglichkeit die relationale Verwobenheit Sozialer Arbeit in der Gestaltung, Veränderung und Bestätigung städtischer Wirklichkeiten zu analysieren. Der Fokus liegt dabei auf den Praktiken, dem alltäglichen Handeln in der Praxis Sozialer Arbeit. Anhand zweier empirischer Rekonstruktionen werden differente Aspekte der Raum(re)produktion in urbanen Räumen illustriert und analysiert. Abschließend diskutiert der Beitrag auf Grundlage dieser Analyse die Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft Sozialer Arbeit. Dabei wird der Gestaltungsanspruch sozialraumorientierter Theorieansätze affirmiert und im Kontext einer reflexiven Professionalität sowie einer reflexiv räumlichen Haltung weiterentwickelt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Im Sinne einer gendersensibilisierenden Sprache verwenden wir den Genderstar ohne „i“. Der „*“ markiert eine Vielzahl möglicher angenommener und zugeschriebener Geschlechteridentitäten. Das Auslassen des „i“ soll eine Reproduktion der Orientierung an einer dual konstruierten heterosexuellen Matrix unterlaufen. Mit dieser Entscheidung nehmen wir jedoch auch in Kauf, dass zumeist die männliche Grundform als Wortkern erhalten bleibt. Im Bemühen um eine gendergerechte Sprache bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Lesbarkeit gibt es keine ideale Lösung. Die hier verwendete ist somit eine Möglichkeit auf die Notwendigkeit der Genderreflexion hinzuweisen.
- 2.
Diese Akteur*nnenkonzeption verweist auf ein schwaches Subjektmodell, dass die Vorannahme eines souveränen Subjektes in Frage stellt und gleichermaßen den Blick auf die Möglichkeitsbedingungen der Akteurinnen richtet, wie es mit Verweis auf Slavoj Zizek (2001) Fabian Kessl und Alexandra Klein für eine diskursanalytischen Akteur*nnenforschung in der Sozialen Arbeit vorschlagen (Kessl und Klein 2011; auch: Kessl 2013).
- 3.
Der französische Ausdruck espace vécu und die englische Übersetzung lived space können als „gelebter“ und „erlebter Raum“ übersetzt werden. Wir verwenden beide wechselnd im Kontext des Satzes.
- 4.
Auch wenn Raum(re)produktion strukturbestätigend sein kann, ist in ihr die Möglichkeit der Transformation angelegt. Der Begriff Reproduktion meint hier also nicht in erster Linie die Wiederherstellung eines status quo. Wir nutzen den Begriff der Raum(re)produktion zur Markierung der Gleichzeitigkeit von Produktion und Reproduktion.
- 5.
Die Beispiele wurden im DFG Projekt „Urbane Raum(re)produktion Sozialer Arbeit“ (2012–2014) erhoben. Die empiriebasierten Rekonstruktionen der Raum(re)produktionspraxen sind in ihren Darstellungen für diesen Beitrag stark verdichtet und auf den Gegenstand fokussiert.
- 6.
Die Darstellung ist aus den Erzählungen von Fachkräften und ehemaligen Unterführungsbewohner*nnen rekonstruiert.
- 7.
Der Prozess der Aneignung muss gesondert betrachtet werden. Der Ort war schon seit ca. 3 Jahren inoffizieller Treffpunkt, als er auch zur Übernachtung genutzt wurde. Deshalb sprechen wir auch von einem Ansatzpunkt der Rekonstruktion (und nicht von einem Ausgangspunkt).
- 8.
Aus Erzählungen von ehemaligen Bewohner*nnen der Unterführung wird deutlich, dass diese Beschwerden nicht ungebrochen waren: ein Schnellrestaurant bot kostenloses Essen für Obdachlose, Passant*nnen halfen mit Geld und Kleiderspenden.
- 9.
Als Allparteilichkeit diskutieren Fritsche und Wigger eine Haltung, die unter Berücksichtigung verschiedener Interessen in Konfliktfällen im Quartier ein Verhandlungssetting schafft, dass allen Gruppen „eine Durchsetzungschance zu eröffnen“ (Fritsche und Wigger 2013, S. 74) sucht. Die hier untersuchte Praxis wird jedoch selbst bereits als Lösung des Konfliktes dargestellt. Die Fachkräfte suchen in diesem Sinne nicht nach einer Konfliktlösung.
Literatur
Belina, Bernd. 2013. Raum. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Böhnisch, Lothar, und Hans Lösch. 1973. Das Handlungsverständnis des Sozialarbeiters und seine institutionelle Determination. In Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Hrsg. Hans-Uwe Otto und Siegfried Schneider, Bd. 2, 2. Aufl., 21–40. Neuwied, Berlin: Luchterhand.
Dewe, Bernd, und Hans-Uwe Otto. 1987. Verwissenschaftlichung ohne Selbstreflexivität? Produktion und Applikation wissenschaftlicher Problemdeutungen in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. In Soziale Dienste im Wandel, Hrsg. Thomas Olk und Hans-Uwe Otto, 287–326. Neuwied/Darmstadt: Luchterhand.
Dewe, Bernd, und Hans-Uwe Otto. 2001. Profession. In Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Hrsg. Hans-Uwe Otto und Hans Thiersch, 1399–1423. Neuwied/Kriftel: Luchterhand.
Dewe, Bernd, und Hans-Uwe Otto. 2010. Reflexive Sozialpädagogik. Grundstrukturen eines neuen Typs dienstleistungsorientierten Professionshandelns. In Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, Hrsg. Werner Thole, 3., erw. Aufl., 197–217. Wiesbaden: VS Verlag.
Dewe, Bernd, und Hans-Uwe Otto. 2011. Professionalität. In Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Hrsg. Hans-Uwe Otto und Hans Thiersch, 1143–1153. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Diebäcker, Marc. 2014. Soziale Arbeit als staatliche Praxis im städtischen Raum. Wiesbaden: VS Verlag.
Dirks, Sebastian, und Fabian Kessl. 2012. Räumlichkeit in Erziehungs- und Bildungsverhältnissen. In Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie, Hrsg. Ullrich Bauer, 507–526. Wiesbaden: VS Verlag.
Dirks, Sebastian. 2008. Regierungsweisen in der Gemeinwesenarbeit. Gouvernementalitäten eines Ansatzes der Sozialen Arbeit. Diplom-Arbeit, Universität Hamburg.
Döring, Jörg, und Tristan Thielmann. 2008. Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript.
Drilling, Matthias, und Patrick Oehler. 2011. Auf dem Weg einer Neupositionierung Sozialer Arbeit und Stadtentwicklung. Sozial Aktuell 2011(5): 7.
Drilling, Matthias, und Patrick Oehler. 2013. Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen. Wiesbaden: VS Verlag.
Dünne, Jörg, und Stephan Günzel. 2006. Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fritsche, Caroline, und Annegret Wigger. 2013. Soziale Arbeit und Stadtentwicklung aus reflexiv räumlicher Perspektive. In Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen, Hrsg. Matthias Drilling und Patrick Oehler, 71–85. Wiesbaden: VS Verlag.
Hinte, Wolfgang. 2006. Geschichte, Quellen und Prinzipien des Fachkonzepts „Sozialraumorientierung“ (Einleitung). In Sozialraumorientierung, Hrsg. Wolfgang Budde, Frank Früchtel und Wolfgang Hinte, 7–24. Wiesbaden: VS Verlag.
Hinte, Wolfgang. 2007. Das Fachkonzept ‚Sozialraumorientierung‘. Herausforderungen an professionelles Handeln und hilfreiche Bedingungen öffentlicher Institutionen. In Jenseits von Tradition und Postmoderne. Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland, Hrsg. Dieter Haller, 98–115. Weinheim: Juventa.
Hinte, Wolfgang, und Fritz Karas. 1989. Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Eine Einführung für Ausbildung und Praxis. Neuwied: Luchterhand.
Kessl, Fabian. 2013. Diskursanalytische Hinweise zu akteursbezogenenen Forschungsperspektiven. In Adressaten, Nutzer, Agency Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit, Hrsg. Gunther Graßhoff, 307–316. Wiesbaden: VS Verlag.
Kessl, Fabian, und Catrin Heite. 2009. Professionalisierung und Professionalität. In Handwörterbuch Erziehungswissenschaft, Hrsg. Sabine Andresen, 682–697. Weinheim: Beltz.
Kessl, Fabian, und Alexandra Klein. 2011. Das Subjekt in der Wirkungs- und Nutzerforschung. In What Works – Welches Wissen braucht die Soziale Arbeit? Zum Konzept evidenzbasierter Praxis, Hrsg. Otto von Hans Uwe, Andreas Polutta und Holger Ziegler, 63–82. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.
Kessl, Fabian, und Hans-Uwe Otto. 2007. Territorialisierung des Sozialen. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.
Kessl, Fabian, und Christian Reutlinger. 2010. Sozialraum – eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag.
Kessl, Fabian, und Christian Reutlinger. 2018 (i. E.). Sozialraumorientierung. In Kompendium Kinder- und Jugendhilfe, Hrsg. Karin Böllert. Wiesbaden: VS Verlag.
Landhäußer, Sandra. 2009. Communityorintierung in der Sozialen Arbeit. Die Aktivierung von sozialem Kapital, Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, Bd. 2, 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag.
Lefebvre, Henri. 1987. Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer.
Lefebvre, Henri. 2010. The production of space. Malden/Oxford/Victoria: Blackwell.
Lefebvre, Henri. 2012. Die Produktion des Raumes. In Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Hrsg. Jörg Dünne und Stephan Günzel, 330–342. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lefebvre, Henri. 2014. Die Revolution der Städte. La Revolution Urbaine. Neuausgabe mit einer Einführung von Kaus Ronneberger. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt (EVA Taschenbuch, 274).
Lefebvre, Henri. 1977. Die Produktion des städtischen Raums. arch+ 034:52–57.
Löw, Martina. 2001. Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Löw, Martina, und Gabriele Sturm. 2005. Raumsoziologie. In Handbuch Sozialraum, Hrsg. Fabian Kessl, 31–48. Wiesbaden: VS Verlag.
Meier, Frank. 2011. Die Akteure des soziologischen Neo-Institutionalismus. In Akteur – Individuum – Subjekt. Fragen zu ‚Personalität‘ und ‚Sozialität‘, Hrsg. Nico Lüdtke und Hironori Matsuzaki, 199–218. Wiesbaden: VS Verlag.
Müller, C. Wolfgang. 1988. Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit. Weinheim/Basel: Beltz.
Projekt „Netzwerke im Stadtteil“. 2005. Grenzen des Sozialraums. Kritik eines Konzepts – Perspektiven für Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag.
Reckwitz, Andreas. 2003. Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie 32(4): 282–301.
Reckwitz, Andreas. 2004. Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In Doing Culture. Zum Begriff der Praxis in der gegenwärtigen soziologischen Theorie, Hrsg. Karl Heinz Hörning, 40–53. Bielefeld: transcript.
Richter, Helmut. 2001. Kommunalpädagogik. Studien zur interkulturellen Bildung. Frankfurt a. M./New York: P. Lang.
Schäfer, Christoph. 2010. Die Stadt ist unsere Fabrik. The city is our factory, 1. Aufl. Leipzig: Spector Books.
Scharpf, Fritz W. 2006. Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schatzki, Theodore R. 1996. Social practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social. Cambridge: CUP.
Schatzki, Theodore R., et al., Hrsg. 2001. The practice turn in contemporary theory. London/New York: Routledge.
Schmid, Christian. 2005. Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Schmid, Christian. 2008. Henri Lefebrve’s theory of the production of space: Towards a three-dimensional dialectic. In Space, difference, everyday life – Reading Henri Lefebvre, Hrsg. Kanishka Goonewardena, 27–45. New York/London: Routledge verlag.
Schubert, Herbert. 2012. Die Gemeinwesenarbeit im gesellschaftlichen Wandel. In Die Zukunft der Gemeinwesenarbeit: Von der Revolte zur Steuerung und zurück? Hrsg. Rolf Blandow et al., 15–28. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Staroste, Kristina K. 2001. Quartiersmanagement: Anforderungen – Erwartungen – Chancen. http://www.stadtteilarbeit.de/themen/theorie-stadtteilarbeit/quartiermanagement/141-qm-erwartungen-chancen.html. Zugegriffen am 08.07.2014.
Thiersch, Hans. 1992. Lebensweltorientierte soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel (Edition Soziale Arbeit) Weinheim: Juventa.
Thole, Werner, und Andreas Polutta. 2011. Professionalität und Kompetenz von MitarbeiterInnen in sozialpädagogischen Handlungsfeldern. Professionstheoretische Entwicklungen und Problemstellungen der Sozialen Arbeit In Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 57. Pädagogische Professionalität, Hrsg. Werner Helsper und Rudolf Tippelt, 104–121. Weinheim: Beltz.
Werlen, Bruno, und Christian Reutlinger. 2005. Sozialgeographie. In Handbuch Sozialraum, Hrsg. Fabian Kessl, 49–66. Wiesbaden: VS Verlag.
Zizek, Slavoj. 2001. Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Webseiten zum Weiterlesen
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2019 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Dirks, S., Lippelt, M. (2019). Professionelle (Re)produktion. In: Kessl, F., Reutlinger, C. (eds) Handbuch Sozialraum. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, vol 14. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19983-2_21
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19983-2_21
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-19982-5
Online ISBN: 978-3-531-19983-2
eBook Packages: Education and Social Work (German Language)