Zusammenfassung
Grundannahme des Beitrags ist, dass Giddens’ Sozialtheorie der Strukturierung mit dem Konzept der Dualität von Struktur, der darin enthaltenen Idee von Strukturierung und dem mehrebenenanalytisch begrifflich-konzeptuellen Instrumentarium einen adäquaten Ausgangspunkt für die Entwicklung einer geschlechtskategorial informierten Gesellschaftstheorie bietet. Mit Blick auf dieses Ziel wird das Konzept der Dualität von Struktur, als Herzstück der Strukturierungstheorie, in geschlechtskategorialer Absicht weiterentwickelt und zur Re-Lektüre von Giddens’ Schriften zur Soziologie der Moderne mit besonderer Aufmerksamkeit für die Dis/Kontinuitäten von Geschlecht und der Geschlechterverhältnisse in der frühen und späten Moderne verwendet. Dabei werden in Giddens’ Werk Anknüpfungsmöglichkeiten in geschlechtskategorialer Absicht identifiziert und notwendige weiterführende Arbeitsschritte herauskristallisiert.
Abstract
The author’s basic assumption is that Giddens’ social theory of structuration with the concept of the duality of structure, the idea of structuration, the multi-level approach and its special terms offer an adequate starting point to develop a social theory which takes gender into account. With regard to this aim the author starts from the concept of the duality of structure, the heart of structuration theory, and revises it from a perspective of gender. The concept of the duality of gender then is used to re-read Giddens’ studies on the sociology of modernity by paying special attention to the dis/continuities of gender and gender relations in early and late modernity. In doing so the author identifies connections of social theory and gender studies in Giddens’ works and outlines some further steps to put a social theory which takes gender into account into practice.
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Notes
- 1.
Die Jahreszahlen beziehen sich auf die deutschen Übersetzungen, die zum Teil erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung im Vergleich zur Veröffentlichung der englischsprachigen Originaltexte vorgelegt wurden, wie das Literaturverzeichnis verdeutlicht. Die englischsprachigen Originaltexte werden nur dann zitiert, wenn keine deutschsprachige Übersetzung vorliegt oder Begriffe präzisiert werden sollen. Die vorwiegende Bezugnahme auf die deutschen Übersetzungen geht mit leichten Verzerrungen in der Rekonstruktion von Giddens’ Argumentation einher. Da dieser Beitrag nicht auf eine Werkexegese zielt, halte ich dies jedoch für vertretbar.
- 2.
Für die kritisch-distanzierte Rezeption im deutschsprachigen Kontext kann exemplarisch auf die Arbeiten von Brigitte Aulenbacher (2001: insbes. S. 207–213, 2005: insbes. S. 101–204) verwiesen werden. Einer eher wertschätzenden und auf die Prüfung von Anschlussmöglichkeiten zielenden Rezeption sind hingegen meine Arbeiten verpflichtet (vgl. Kahlert 2000, 2005, 2006b, 2008a).
- 3.
Giddens betont, dass es ihm um „institutionelle Reflexivität“ geht und er diesen Begriff dem der „reflexiven Modernisierung“ vorziehe, den Beck (z. B. 1996) geprägt hat: „Die Theorie der reflexiven Modernisierung geht von der Möglichkeit einer ‚Vollendung‘ der Moderne aus, indem zuvor unberücksichtigte Aspekte der Gesellschaft und der Natur gegenwärtig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Und sie glaubt eine ‚Richtung‘ angeben zu können, in der sich die Dinge entwickeln. Doch in dieser Lage befinden wir uns gegenwärtig nicht. Wir sind mit viel verwirrenderen Umständen konfrontiert, unter denen – wie die Vertreter der Postmoderne betonen – keine eindeutigen Entwicklungsstufen mehr anzugeben sind. Ein gesellschaftliches Universum, in dem sich Reflexivität ausbreitet, ist gekennzeichnet durch die gleichzeitige Wiederentdeckung und Auflösung von Traditionen sowie das häufig nicht nachvollziehbare Verschwinden von bis dahin für stark gehaltenen Trends. Das bedeutet nicht – wie die Anhänger der Postmoderne behaupten –, dass alle menschlichen Bemühungen um die Beherrschbarkeit der Welt notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sind. Solche Anstrengungen […] sind weiterhin erforderlich und durchführbar, auch wenn wir uns bewusst sein müssen, dass derartige Unterfangen, sei es zu unserem Vorteil oder zu unserem Nachteil, bruchstückhaft bleiben müssen.“ (Giddens 1996c, S. 317–318)
- 4.
Die englischsprachigen Originaltexte und die deutschen Übersetzungen weichen an den entsprechenden Stellen begrifflich voneinander ab: Im Aufsatz zur posttraditionalen Gesellschaft ist die Rede von „sexual identity“ bzw. „Geschlechtsidentität“ (Giddens 1996b, S. 114), im Aufsatz zur Tradition ist die Rede von „divisions between the sexes“ bzw. „Verhältnis der Geschlechter“ (Giddens 2001, S. 58). Wissend, dass „divisions between the sexes“ etwas anderes als „Verhältnis der Geschlechter“ und dass „sexual identity“ nicht unbedingt „Geschlechtsidentität“ sondern auch „sexuelle Identität“ meinen kann, folge ich hier dennoch den deutschsprachigen Übersetzungen. Eine genauere Rekonstruktion von Giddens’ Begrifflichkeiten zur Beschreibung von geschlechts- und sexualitätsbezogenen Fragen und seine damit verbundene Geschlechtertheorie bleibt weiteren Ausführungen vorbehalten.
- 5.
Im englischsprachigen Original heißt es „gender-divided“.
- 6.
Gisela Bock und Barbara Duden haben den sich hier andeutenden Zusammenhang von „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit“ bereits 1977 in einem auch heute noch lesenswerten Aufsatz näher untersucht.
- 7.
Giddens erläutert sein Verständnis des utopischen Realismus wie folgt: „Der utopische Realismus ist in der von mir befürworteten Gestalt das Kennzeichen einer kritischen Theorie ohne Garantien. ‚Realistisch‘ heißt diese Einstellung, weil eine solche kritische Theorie und eine solche radikal-demokratische Politik soziale Prozesse begreifen müssen, um Ideen und Strategien vorzuschlagen, die in die Tat umgesetzt werden können. ‚Utopisch‘ heißt sie aus folgendem Grund: In einer Gesellschaft, die von sozialer Reflexivität immer stärker durchdrungen wird und in der mögliche Zukunftsabläufe nicht nur ständig gegen die Jetztzeit abgewogen werden, sondern die Gegenwart mitprägen, können Modelle dessen, was möglich ist, das, was eintreten wird, unmittelbar beeinflussen.“ (Giddens 1997, S. 333–334)
- 8.
Hier deutet sich, möglicherweise unbeabsichtigt, eine heteronormative Orientierung an (vgl. Mulinari und Sandell 2009, S. 501–503).
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Kahlert, H. (2015). Dis/Kontinuitäten der Geschlechterverhältnisse in der Moderne. Skizzen zu Anthony Giddens’ Verbindung von Gesellschaftstheorie und Genderforschung. In: Kahlert, H., Weinbach, C. (eds) Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19937-5_4
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