Zusammenfassung
Methodologien und Methoden basieren auf erkenntnis-, wissenschafts- und sozialtheoretischen Annahmen, die – mal implizit und mal explizit – die Gestalt der Verfahren ebenso prägen wie sie ihrer Rechtfertigung die argumentative Basis geben. Ein beliebtes Muster in kontroversen Methodendiskussionen besteht im Ignorieren der Unterschiede der konkurrierenden methodischen Positionen in Bezug auf diese Vorannahmen – etwa im Fall der Universalisierung des kritischen Rationalismus. Mitunter machen es die Protagonisten bestimmter Methodologien ihren Kritikern allerdings auch leicht, indem sie ihre Vorannahmen nicht sorgfältig und konsequent genug explizieren oder gar indem sie, einem vermeintlichen Konformitätsdruck in den Wissenschaften nachgebend, ihre methodischen Vorschläge vorschnell einem dominierenden wissenschaftstheoretischen Paradigma unterordnen. Das vorliegende Kapitel stellt die für die Grounded Theory prägende wissenschafts- und erkenntnistheoretische Verankerung im klassischen Amerikanischen Pragmatismus dar.
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Notes
- 1.
Blumer fügt dem pragmatistischen Realitätsbegriff allerdings ein paar unangemessene und unnötige Verkürzungen zu, die ich hier nicht diskutieren kann, aber auch nicht übernehmen will. Insbesondere fehlt in seinem Konzept der physisch-sensuelle Bezug zwischen Akteur und Körper/Welt, wodurch der Eindruck entsteht, sein Begriff von Realität beschränke sich auf die Welt der Bedeutungen (vgl. Strübing 2005, Kap. 2.4).
- 2.
Für ausführlichere Darstellungen siehe Joas (1992) und Strübing (2005, Kap. 1).
- 3.
Die Ko-Genese von Reiz/Objekt und ‚habit‘ hat Dewey (1963) am Beispiel von Kerzenlicht und kindlichem Lernen aufgezeigt. – Soziologisch hat William I. Thomas den Gedanken der Konsequenzenträchtigkeit in seinem Konzept der Situationsdefinition weitergeführt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, dann sind sie real in ihren Konsequenzen“ (Thomas und Thomas 1928, S. 572).
- 4.
Ich beziehe mich hier ausschließlich auf den klassischen Pragmatismus und dessen zentrale Postulate, über die zwischen Peirce, James, Dewey und Mead weitgehend Einigkeit herrschte. Zwar gibt es im Pragmatismus – wie in allen wissenschaftlichen Ansätzen – Differenzen und teils auch heftige interne Kontroversen. Der von Lewis und Smith (1980) unternommene Versuch aber, Peirce zum Realisten, James und Dewey hingegen zu Nominalisten zu erklären, geht – wie u. a. Blumer (1977, 1983) oder Rochberg-Halton (1983) überzeugend dargelegt haben – an der Sache vorbei.
- 5.
Die alltagssprachliche Redewendung ‚Problem erkannt, Problem gebannt‘ ist insofern irreführend.
- 6.
Was hinreichend ist, wird in einem sozialen Aushandlungsprozess unter Einbeziehung der Auseinandersetzung mit der Natur bestimmt. Dabei bringt der Kontext ‚Wissenschaft‘ andere Standards und Gütekriterien hervor als Problemlösungsprozesse im Alltag. Entscheidend ist aber in beiden Bereichen die gemeinsam geteilte Überzeugung von der erfolgreichen Lösung des Ausgangsproblems, deren Validierungsinstanz erfolgreiches Handeln auf der Basis der gefundenen Lösungen bzw. des erarbeiteten Wissens ist. Unterschiede zwischen Alltag und Wissenschaft sind zweifellos relevant, aber sie sind hier nicht kategorialer, sondern gradueller Art: Auch im Alltag ist eine gewisses Maß an Konsistenz und Nahvollziehbarkeit unabdingbar, um einer Lösung intersubjektive Geltung zu verschaffen.
- 7.
Allerdings verwendet Oevermann die Idee der Abduktion in anderer Weise als dies Rosenthal oder Kelle und Kluge tun (vgl. auch Bohnsack 2003, S. 197 ff.).
- 8.
Ich verzichte hier auf weitere Belege, da Reichertz (2003, S. 9 ff.) bereits eine Reihe von Autoren zitiert, die sich in dieser Richtung geäußert haben.
- 9.
Peirce verwendet zunächst den Begriff „hypothesis“, ab 1893 aber bringt er diesen für eine längere Schaffensperiode mit dem der Abduktion in Verbindung, ohne beide Begriffe definitorisch klar zu trennen (Richter 1995, S. 102 f.).
- 10.
Es handelt sich hier nicht, wie man zunächst meinen könnte, um eine in der Schreibweise abweichende Vergangenheitsform von ‚percipere‘, sondern um ein von Peirce geprägtes Kunstwort (Reichertz 2003, S. 48 Fn 30).
- 11.
Einige davon haben wir im ersten Kapitel bereits kennen gelernt. Strauss und Corbin (1996, S. 56 ff.) haben eine ganze Reihe von „Techniken zur Erhöhung der theoretischen Sensibilität“ im Einzelnen beschrieben. Allerdings können auch diese Verfahrensvorschläge Abduktionen nicht regelhaft erzeugen. Voraussetzung ist in jedem Fall eine Form geistiger Offenheit, wie sie Reicherts als „abduktive Haltung“ im Blick hat. Und riskant bleibt die Sache allemal.
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Strübing, J. (2014). Erkenntnismodell und Wirklichkeitsbegriff im Pragmatismus. In: Grounded Theory. Qualitative Sozialforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19897-2_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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