Zusammenfassung
Pfadabhängigkeit und Kontingenz sind zwei ungleiche Begriffe der politikwissenschaftlichen Zeitdiagnose. Das gilt zunächst für ihre Akzeptanz im Fach. Mit der neo-institutionalistischen Wende der 1980er Jahre wurde auch die Pfadabhängigkeit zum „interpretatorischen Paradigma“ (Lehmbruch 2002, S. 13). Ansätze, die Kontingenz zum Bezugsrahmen des politischen Denkens haben, wie etwa die kritische Zeitdiagnose über die politische Gesellschaft von Michael Th. Greven (1999), sind dagegen immer noch Ausnahmeerscheinungen. Aber auch inhaltlich stehen Pfadabhängigkeit und Kontingenz für denkbar unterschiedliche Ansätze. Pfadabhängigkeit bedeutet, dass ein einmal eingeschlagener Weg beibehalten wird, dass also die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft determiniert. Es handelt sich somit um eines der Modelle erfahrungswissenschaftlicher Zukunftsprojektion, gegen die der Kontingenzbegriff von Greven mobilisiert wird. Kontingenz bedeutet, „dass sie Vergangenheit oder deren Trends die Zukunft (eben) nicht determinieren, dass also nicht Notwendiges möglich ist“ (Greven 2009a, S. 412). Vor diesem Hintergrund bildet das Pfadabhängigkeitstheorem mit seiner idiosynkratischen Begriffswelt aus „institutionellen Weichenstellungen“, „unumkehrbaren Entwicklungen“, „steigenden Erträgen“ und „positiven Selbstverstärkungseffekten“ eine Zumutung szientifischer Kontingenzverdrängung ganz besonderer Art.
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Notes
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Im klassischen Pfadabhängigkeitstheorem ist die Vorstellung die, dass den steigenden Erträgen unterschiedliche „Rückkopplungsmechanismen“ zugrundeliegen, Mechanismen also, die dazu führen, dass eine Institution reproduziert wird, weil die Akteure ihr Handeln auf sie abstellen. Wie Lehmbruch vorbildhaft zusammenfasst, gehören dazu „hohe Startkosten (…): Wenn die Akteure in eine bestimmte Institution investiert haben, werden sie ein Interesse daran haben, diese Kosten wieder hereinzuholen. Eine weitere Möglichkeit sind Lerneffekte: Wenn Akteure es gelernt haben, mit einer bestimmten Institution umzugehen, dann nimmt die Effizienz dieser Institution zu. Eine dritte Alternative sind ‚Koordinierungseffekte‘: Die Individuen ziehen dabei umso höheren Nutzen aus einer bestimmten Tätigkeit, je mehr andere Individuen dieselbe Option wählen. Dies geschieht vor allem bei Technologien, die an eine komplexe Infrastruktur gebunden sind und sich infolgedessen durch positive Netzwerkexternalitäten auszeichnen (z.B. das Telefonnetz). Viertens können ‚adaptive Erwartungen‘ eine Rolle spielen: Hier wählen die Individuen eine bestimmte Option, wenn sie davon ausgehen, dass diese auch von den anderen gewählt wird und dass sie damit, bildlich gesprochen, ‚auf das richtige Pferd setzen‘.“ (Lehmbruch 2002, S. 14 f.).
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Man kann sich das etwa so vorstellen, dass die Pfadabhängigkeit einem additiven Entwicklungsmuster folgt, weil zwar ständig etwas hinzukommen kann, allerdings ohne dass das Alte in seinen Strukturen verändert wird.
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Ein Beispiel für selektives Handeln ist die Orientierung an Ideologien und „mentalen Landkarten“, die den Akteuren dabei behilflich sind, aus dem Fluss an mehrdeutigen politischen Informationen die für sie relevanten auszuwählen und in politische Handlungsziele zu transformieren.
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Arendt setzt Bewahren und Sichverhalten dem politischen Handeln entgegen. Während Bewahren und Sichverhalten Berechenbarkeit und Unfreiheit signalisieren, die in der Ereignislosigkeit sowie der Ersetzbarkeit und Realitätsflucht Einzelner zum Ausdruck gelangen, basiert das politische Handeln auf Individualität, Spontaneität und der permanenten Freiheit des Neuanfangs (Arendt 1958, S. 692).
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Ähnlich kritisiert Offe die Verdinglichung des Institutionenbegriffs im wissenschaftlichen Denken: „Institutionelle Regeln gelten nie ‚flächendeckend‘. Institutionelle Strukturen sind löchrige Gebilde, deren Regeln nie alle Eventualitäten abdecken können. Sie bieten den Akteuren ständig Gelegenheiten, die in sie eingebauten Mechanismen der Selbsterhaltung zu unterlaufen und zu stören. (…) Daher spielen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle wie Regeln – auch (und gerade) wenn Entscheidungen allein dem Schutz, der Durchsetzung, der Aufrechterhaltung oder der Interpretation von Regeln gelten“ (Offe 2001, S. 275).
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Orientiert sich Pierson noch an der mikroökonomischen Beschreibung „Initial small advantages become magnified (…) by creating a large installed base and direct the future” (Arrow, zit. in Lehmbruch 2002, S. 15), so spricht die soziologische Pfadabhängigkeitsanalyse immerhin schon von „den kontingenten Umständen einer bestimmten historisch-prägenden Kräftekonstellation (…) in der die jeweils (…) mächtigen, durchsetzungsfähigen Ideen- und Interessenträger (…) ihre gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und -entscheidungen symbolisch und materiell zu institutionalisieren vermögen“ (Lessenich 2003, S. 55).
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So argumentiert etwa Mayntz: „If a mechanism is represented as linking two events or system states, contingency resides in the initial (or context) conditions that are not part of the mechanism itself“ (Mayntz 2004, S. 245).
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„Die Fokussierung des Forschungsinteresses auf die Ergebnisse der Ereignisse führt ganz einfach zu einem Unverständnis der häufig anzutreffenden Kontingenz dieser Ergebnisse, zum Unverständnis der Tatsache, dass diese Ergebnisse dem aleatorischen Zusammentreffen ganzer Serien von Determinationen, voneinander getrennten, heterogenen oder voneinander autonomen Kausalketten zu verdanken sind“ (Dobry 2001, S. 80).
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Lessenich spricht hier von „Ausstrahlungseffekten“ der Pflegeversicherung, die sie zur Vorbotin eines zukünftigen Strukturwandels machen (Lessenich 2003, S. 247).
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Kritisch angegangen werden könnte diese Vorstellung im Rahmen der Pfadabhängigkeitsanalyse allenfalls aus der meines Erachtens bislang anspruchsvollsten Überarbeitung des Theorems durch Streeck und Thelen (2005). Hier werden unterschiedliche Idealtypen eines endogen verursachten graduellen Institutionenwandels konzeptualisiert, die dem klassischen Pfadabhängigkeitstheorem in mindestens zweierlei Hinsicht überlegen sind. Erstens werden Nichtentscheidungen in Form von Verweigerungshandlungen und ihren möglichen Folgewirkungen für die Institutionenentwicklung, mit in die Analyse einbezogen. Ein Beispiel bildet die strategisch motivierte Nichtanpassung von Institutionen an veränderte Umweltbedingungen. Die Institution fängt an zu driften. Ihre Gegner gewinnen Zeit, weil die Institution infolge eines schleichenden Erosionsprozesses irgendwann leichter demontiert werden kann. Zweitens verweist die Analyse auf komplexe Zeitstrukturen, deren Wahrnehmung für den Neoinstitutionalismus an sich nicht neu ist, die aber im Rahmen der Vermittlung einer eindimensionalen linearen Zeiterstreckung im klassischen Pfadabhängigkeitstheorem vernachlässigt wird. Gemeint ist etwa die Vorstellung von Schichten (‚layers‘) langfristiger institutioneller Entwicklungen. Mit anderen Worten, unterschiedliche temporale Entwicklungen verlaufen simultan, können aber verschiedene Phänomene beinhalten, so z.B. Erosion unterhalb der Oberfläche von Stabilität.
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„Demokratien unterscheiden sich von allen anderen Herrschaftssystemen dadurch, dass sie auf Dauer nur ‚lebensfähig‘ bleiben, ‚wenn sie von ihren Bürgern verstanden werden‘“ (Sartori, zit. in Greven 2000, S. 1).
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Toens, K. (2012). Pfadabhängigkeit und Kontingenz in der politikwissenschaftlichen Zeitdiagnose: Nur scheinbare Gegensätze?. In: Asbach, O., Schäfer, R., Selk, V., Weiß, A. (eds) Zur kritischen Theorie der politischen Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19669-5_5
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